Es heißt, als jungem Menschen stünden einem alle Türen offen. Doch gerade der Weg zum Erwachsenwerden erweist sich oftmals als steinig. Seit 1994 bildet in der Ungergasse die Kriseneinrichtung „tartaruga“ eine Anlaufstelle für Jugendliche, die alleine nicht mehr weiter wissen. Bis zu zwölf Wochen können hier 13- bis 18-Jährige in der Einrichtung wohnen und mit ausgebildeten Pädagogen an ihren Problemen arbeiten.
Von Katja Winkler und Sophie-Kristin Hausberger
Eine dicke Nebeldecke hängt an diesem Morgen über dem Haus, das geschützt in einem Hinterhof der Ungergasse liegt. Efeuranken klettern die Mauer hinauf, an manchen Stellen bröckelt Putz ab, ein rotes Gerüst erinnert an die letzten Sanierungsarbeiten. Nach dem Surren der Klingel öffnet ein noch etwas verschlafen wirkender Mann um die dreißig die Tür. Mit einem Lächeln bittet Markus Horneck uns herein. Mit der Kriseneinrichtung tartaruga ist er schon seit Jahren verbunden, hier hat der FH-Absolvent sein Pflichtpraktikum absolviert, seit fünf Jahren arbeitet der Sozialpädagoge hier als hauptamtlicher Mitarbeiter.
Herr Horneck, die tartaruga gibt es seit 17 Jahren. Haben sich die Probleme der Jugendlichen seit der Gründung der Kriseneinrichtung verändert?
Momentan ist die Internetgesellschaft ein großes Thema. Stichwort: „der gläserne Mensch“. Ich muss mich im Internet präsentieren, muss immer erreichbar sein, immer hübsch, toll sein, und das 24 Stunden lang. Früher gab es einen Rückzugsort, den gibt es jetzt weniger. Die Hauptgründe, warum Jugendliche zu uns kommen, sind ganz allgemein Familienkrisen. Meist sind es Patch-work-Familien, oft kommen die Eltern selber aus sehr schwierigen sozialen Schichten und kämpfen somit selbst mit ihrem Leben. Sie können ihren Kindern keine stabilen Verhältnisse bieten. Und natürlich spielen die klassischen Entwicklungskrisen von Jugendlichen eine große Rolle: Was möchte ich werden? Wie finde ich meinen Weg in der Welt?
Man hört oft in den Medien, in den letzten Jahren habe auch die Gewaltbereitschaft bei Jugendlichen zugenommen. Stimmt das?
Ich bin seit fünf Jahren in der tartaruga. Seitdem hat es zwar immer wieder gewaltbereite Jugendliche gegeben, und zwei bis drei Mal im Jahr kommt es bei uns auch zu Eskalationen. Dass das Aggressionspotential insgesamt zugenommen hat, kann ich aber nicht sagen.
Wie reagieren Sie, wenn es im Haus zu Gewaltübergriffen kommt?
Es kommt auf die Intensität an. Gewalt gibt es auch in verbaler Form. Wenn es zu Gewalt kommt, ist das ein klares Ausschlusskriterium. Jugendliche können bei uns auch entlassen werden. Und wir besprechen und reflektieren mit ihnen, warum es zu Gewalt gekommen ist.
Dem Jahresbericht entnehmen wir, dass 57 Prozent der Jugendlichen im letzten Jahr aufgrund von Familienkonflikten in die tartaruga gekommen sind. Um welche Art von Konflikten handelt es sich genau?
Es kommt immer wieder zu häuslicher Gewalt – die klassische „gesunde Ohrfeige“ ist ja bekannt – und zu sexuellen Missbräuchen und Übergriffen, auch von Familienmitgliedern. Sonst sind es meistens klassische Pubertätskrisen. Wenn Jugendliche beispielsweise nie Grenzen erfahren haben, kann das Zusammenleben mit den Eltern in dieser Zeit schwierig werden.
Die tartaruga nimmt nur Jugendliche von 13 bis 18 Jahre auf. Wäre im Einzelfall nicht auch eine Betreuung für Ältere sinnvoll?
Früher konnte man die Minderjährigkeit noch auf 21 Jahre anheben, diese Möglichkeit gibt es jetzt nicht mehr. Und wir werden über das Jugendamt finanziert, da endet die Zuständigkeit mit 18 Jahren. Obwohl natürlich einige Jugendliche auch nicht automatisch „erwachsen“ sind, wenn sie 18 werden. Was soll sich auch über Nacht großartig ändern? Aber in einer bürokratischen Welt ist das leider so, dass irgendwann einmal ein Strich gezogen wird. Da ist unser System unflexibel.
Sechzig Prozent der Jugendlichen zwischen 13 und 18 Jahren, die im letzten Jahr stationär aufgenommen wurden, waren weiblich. Welche Gründe gibt es dafür?
Mir ist aufgefallen, dass Klientinnen mit Migrationshintergrund sich oft von den strengen Vorstellungen des Elternhauses lösen und sich Freiheit erkämpfen wollen. Die Vorstellung der Eltern und die österreichische Mentalität und Kultur, die diese Jugendlichen im Alltag erleben, passen oft nicht zusammen.
Welche typischen Probleme gibt es bei Burschen?
Die Probleme sind oft ähnlich gelagert, äußern sich aber anderes. Generell neigen Mädchen dazu, Probleme nach innen zu kehren. Es kommt immer wieder zu Selbstverletzungen. Sehr viele Klientinnen kommen über die Landesklinik Sigmund Freud zu uns. Wohingegen Burschen eher zu aggressiven Verhaltensmustern neigen. Im Einzelfall ist es aber immer wieder auch umgekehrt.
Sie haben gerade Selbstverletzung angeschnitten. Gab es auch schon Selbstmordversuche in der tartaruga?
Eines unserer wichtigsten Prinzipien ist, dass unsere Türen immer offen sind. Das heißt, wenn Jugendlichen nicht bei uns bleiben wollen, können sie jederzeit gehen. Einmal wollte sich eine Jugendliche aus dem Fenster abseilen. Sie hat sich dann auch schwer verletzt. Einen richtigen Selbstmordversuch habe ich Gott sei Dank noch nicht miterlebt.
Spielen Drogen eine Rolle in Ihrer Arbeit?
Chronisch abhängige Jugendliche betreuen wir in der Regel nicht. Aber wir arbeiten Drogen-akzeptierend und versuchen, den Jugendlichen bei uns eine Tagesstruktur aufzubauen, Ressourcen anzubieten, damit sie sich in der Freizeit wieder anders betätigen als über den Konsum von Substanzen. Im Haus ist es ein absolutes Tabu etwas zu konsumieren. Was Jugendliche draußen machen, können wir nicht kontrollieren. Und wenn wir die Gesundheit der Jugendlichen nicht mehr gewährleisen können, müssen wir die Rettung rufen.
Kommt das oft vor?
Ja, aber da ist eher Alkohol das Thema. Wenn wir nicht garantieren können, dass jemand im Rausch einschläft und dann vielleicht an Erbrochenem erstickt, rufen wir die Rettung. Wir können ja nicht die ganze Nacht neben dem Bett sitzen.
Welcher Bildungsschicht gehören die Jugendlichen an, die in die tartaruga kommen?
Wir haben Klienten aus allen sozialen Schichten. Familien mit einem höheren sozialen Status haben aber mehr finanzielle Möglichkeiten, um eine Krise zu lösen oder sie zu verschleiern. Da gibt es die klassischen Möglichkeiten: ein teures Heim oder eine eigene Wohnung für den Jugendlichen. Daher haben wir mehr Klientel aus sozial schwächeren Schichten.
Die tartaruga befindet sich mitten im Bezirk Gries. In den letzten Jahren sind viele Migranten in diese Gegend zugezogen. Kommen auch vermehrt Jugendliche mit Migrationshintergrund zu Ihnen?
Das kann man so nicht sagen. Grundsätzlich kommen Jugendliche, die sich in Krisen befinden – ob Migranten oder Österreicher. Dass tartaruga direkt im Griesviertel liegt, hat keine Auswirkung auf die Klienten, die zu uns kommen. Wir sind keine Notschlafstelle oder ein Jugendzentrum im eigentlichen Sinne, sondern wir bieten Beratung für Jugendliche an.
Das Interview in Videoform gibt es auf Youtube.