Im „Büro der Nachbarschaften“ beschenken sich die Menschen gegenseitig. Ohne Anlass. Einfach so. Das „Gib und Nimm-Regal“ fordert dazu auf, gebrauchte Gegenstände dazulassen und sich andere dafür zu nehmen. Dabei geht es aber nur in zweiter Linie um den Austausch von Dingen; wichtiger ist der Austausch von Geschichten, das Erzählen und Gehörtwerden.
von Sonja Radkohl
„Hier kann Mensch sein trainiert werden. Ich nenne es ,Begegnungslabor‘“, erklärt Gunda Bachan und winkt im selben Augenblick Arbeitern auf der Straße, eilt zur Tür und lädt eine Nachbarin auf einen Kaffee ein. Sie ist Mitarbeiterin im „Büro der Nachbarschaften“ der Pfarre St. Andrä, wo reger Betrie herrscht, selbst wenn eigentlich gerade geschlossen ist. Nun verstärkt ein weiteres Projekt das bunte Treiben: Das „Gib und Nimm-Regal“ beherbergt Dinge, die ihre Besitzer nicht mehr brauchen, mit denen aber jemand anderes noch seine Freude haben könnte. „Schenke das her, über das du dich selber noch freuen würdest, und nimm das, was du gut brauchen kannst“, sagt Bachan.
Das „Gib und Nimm-Regal“ gegenüber der Pfarre St. Andrä
Gunda Bachan zeigt Gegenstände aus dem Regal
Und so finden sich Lederpumps neben einer Fritteuse, eine Taucherbrille hängt über einem Jil Sander-Blazer, und eine Stoffgiraffe hockt auf einer Küchenuhr. Erstmals gehört von der „Gib und Nimm-Idee“ hat Gunda Bachan bei der Ausstellung „Schauplatz Annenviertel!“ im Stadtmuseum. Dort hat Monika Meurer, von der der Grundgedanke stammt, ein solches Regal präsentiert. Bachan dazu: „Mir war es wichtig, diese Idee vom Podest des Stadtmuseums runterzuholen. Die Menschen, die das „Gib und Nimm-Regal“ wirklich brauchen, würden nie ins Stadtmuseum gehen.“
„Oder ich ziehe einfach die Sachen an“ , scherzt Bachan
Von georgischen Mädchen und liebenswerten Jungs
Die Dinge, die im Regal stehen, sind allerdings nur zweitrangig. Zuallererst geht es um die Menschen: „Das wirklich Wertvolle hier sind nicht die Gegenstände, sondern die Zeit. Zeit, die sich jemand nimmt und den Menschen zuhört, wenn sie ihre Geschichte erzählen.“ Da ist zum Beispiel ein georgisches Mädchen, das einen Becher betrachtet und vor Sehnsucht nach ihrer Heimat seufzt: „Das ist so schön – das muss aus Georgien sein.“ Eine alte Dame bringt spanische Literatur vorbei, weil sie weiß, dass hier die internationale spanische Messe stattfindet. Eine Künstlerin aus Deutschland lässt eine Keramikschale da und spricht eine Stunde lang über Afghanen und welche Vorurteile die Menschen gegenüber diesen „liebenswerten Jungs“ haben. Ein Professor entdeckt im Schaufenster einen Notenständer, den er schon lange gesucht hat, und ist bestürzt, dass er dafür nichts bezahlen darf.
Bachan im Jil Sander Blazer und mit georgischen Bechern
Hinter jedem Gegenstand stecken Menschen mit ihren Geschichten
„Bei solchen Geschichten geht mir das Herz auf. Ich könnte eigentlich ein Buch schreiben über alles, was hier abgeht!“, lacht Bachan. Dass das Projekt fruchtet, merken die Besucher gleich, denn das Regal droht immer wieder aus allen Nähten zu platzen. Viel Sortierarbeit ist nötig, Ladenhüter müssen zur Caritas gebracht werden, „damit das Regal leben kann.“ Und das tut es – weniger durch die Dinge, die darin stehen, sondern durch die Geschichten und die Menschen, die sich dahinter verbergen.