Schuftende Bauarbeiter und dröhnende Maschinen – die Annenstraße erlebt derzeit offensichtlich größere Veränderungen. Zumindest äußerlich. Blickt man jedoch hinter die Bauzäune, sieht man auch ganz andere Bilder: unzählige verlassene Geschäfte, verwaiste Wohnhäuser. Zeichen eines Niedergangs oder der Beginn des Aufschwungs?
Doch wie viele leerstehende Geschäfts- und Wohnflächen oder gar Brachen – und daher auch ungenutzten Raum – gibt es eigentlich im Annenviertel? Aus einer Feldforschung der ehemaligen Architekturstudentinnen Lisa Enzenhofer und Anna Resch ging ein ernüchterndes Ergebnis hervor. Riesige Flächen mitten in der Stadt stehen leer. Und das, obwohl Wohnraum in Graz dringend benötigt wird. Graz wächst beständig. Im Jahr 2012 waren mit knapp 270.000 Hauptwohnsitzen 30.000 mehr als im Jahr zuvor gemeldet. Doch anstatt bestehende Ressourcen zu nützen, wird vielfach einfach neu gebaut.
Urbane Brache: Die Lücke in der Griesgasse, Foto © Lendlabor
Rückblende: Im Juli 2012 schlendern zwei junge Frauen, Mitte zwanzig, aufmerksam die Straße und Gassen rund um die Annenstraße ab. Mit interessiertem Blick nehmen sie die unterschiedlichen Gebäude unter die Lupe – die verfallenen ebenso wie die frisch renovierten. Sie machen sich Notizen und zeichnen die Orte in eine Stadtkarte ein. Rund zwei Jahre ist es her, dass Lisa Enzenhofer und Anna Resch ihre Feldforschung im Rahmen ihrer Diplomarbeit „Lendlabor – vom Leerstand zur Ressource“ durchführten und versuchten, die Leerständen in Graz zu durchleuchten.
Anna Resch und Lisa Enzenhofer und erkundeten Leerstände in Graz, Foto © Lendlabor
Bis heute hat ihre Arbeit zu den Leerständen in Graz viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Die jungen Frauen gewannen Wettbewerbe, setzten im Auftrag der Stadt Graz eine Studie um und planen nun eine Initiative zum produktiven Umgang mit diesem Leerstand, damit schnell wieder Leben in diese verlassenen Orte einkehrt. Im Frühjahr waren sie auch Kuratorinnen einer zweimonatigen Ausstellung im Haus der Architektur (hda), in der sie ihre Erhebungen präsentierten. Im Rahmen der Ausstellung wurde einmal wöchentlich ein besonderer Gesichtspunkt der Leerstandsthematik aufgegriffen und behandelt.
Vor allem die Zwischen- und Wiedernutzung dieser Leerständen und die Förderung eines breiteren Diskurses war den beiden wichtig, im April luden sie daher zu einer Podiumsdiskussion mit dem Titel „Statt Leerstand Diskurs – Vom Leerstand zur Ressource“. Teilnehmer war unter anderen auch Daniel Schnier von der ZZZ – ZwischenZeitZentrale Bremen. Das Konzept dieser Institution, deren Mitarbeiter zwischen Eigentümern und oftmals nur kurzzeitig Raumsuchenden vermitteln, sorgte für Begeisterung. Vor allem bei Kulturstadträtin Rücker (Grüne) fand die Idee der Zwischennutzung von Leerständen großen Anklang. „Die kulturelle Zwischennutzung macht für die kulturelle Entwicklung sehr viel aus. Ich möchte solche Projekte auf jeden Fall fördern“, sagte Rücker am Podium.
Den Kuratorinnen gefällt vor allem der soziale Aspekt der Zwischennutzung, denn „zeitlich begrenzte Zwischennutzung, ohne dass ein Vermieter daraus Kapital schlagen will, kann einem Gebiet sehr gut tun“. Man könne ein neues Image für einen Ort kreieren, Startups ermöglichen, junges Potential fördern und zum Beispiel Urban Gardening ermöglichen. Der Kreativität seien keine Grenzen gesetzt. Denn alles sei besser als ein brachliegendes Objekt, so Enzenhofer.
Mit ihrer Diplomarbeit machen die Architekturstudentinnen bislang unbekannte Daten zu den Leerständen in Graz öffentlich. Als Enzenhofer und Resch das Stadtbauamt zu Beginn ihrer Nachforschungen um Daten diesbezüglich gebeten hatten, waren sie verblüfft. „Wir haben eigentlich gedacht, dass es über leerstehende Objekte ohnehin schon genügend Aufzeichnungen gibt. Doch als wir im Stadtbauamt waren, hatten sie gar nichts.“ Und gerade dadurch wurden die beiden bekräftigt, ihre Diplomarbeit diesem Thema zu widmen.
Die Studentinnen versuchten, die leerstehenden Flächen in Graz möglichst vollständig aufzunehmen. „Wir haben uns zuerst ein kleineres Gebiet abgesteckt – von der Mur bis zum Bahnhofsgürtel und vom Kalvariengürtel bis in den Süden der Annenstraße.“ 1,7 km² haben sie im Juli 2011 über mehrere Wochen hinweg laufend beobachtet und alle Leerstände in einen Stadtplan eingezeichnet. „Wir haben die Gegenden immer wieder aufgesucht, um zu sehen, ob sich etwas verändert hat. War am Abend Licht in den Gebäuden zu sehen, war klar, dass die Räumlichkeiten noch benutzt wurden. Bei einigen Objekten aber haben wir erst durch intensives Nachforschen die Besitzer identifizieren können.“ In der Annentsraße gab es Ende März 2013 17 leerstehende Geschäftslokale. Allerdings verändere sich der Leerstand so schnell, dass es schwierig wäre, genaue Zahlen festzulegen.
Juli 2012: Wieder einmal gehen die beiden Frauen an der riesigen, leerstehenden Dominikanerkaserne vorbei. „6.000 km² bebauter Raum bleiben verwahrlost und unbenutzt hinter verschlossenen Türen. Und das nun seit über 13 Jahren. „Die denkmalgeschützte Kaserne hat wunderschöne Räume, die allesamt genutzt werden könnten. Vereine oder andere Initiativen könnten dort eine neue Heimat oder auch nur zwischenzeitlich Unterschlupf finden, doch die Besitzer lassen es lieber leer stehen“, denkt sich Lisa Enzenhofer, während sie am Kloster vorbeigeht.
Gähnende Leere hinter den Klosterfenstern: Die Dominikanerkaserne, Foto © Lendlabor
Warum man ein solches Schmuckstück mitten in der Stadt so verkümmern lässt, haben sich die zwei oft gefragt. Heute, nachdem sich Enzenhofer und Resch schon viele Monate mit der Thematik beschäftigt haben, wissen sie es. Da die Räumlichkeiten extrem groß sind, ist es schwierig, jemanden zu finden, der eine solch riesige Fläche benötigt. Momentan werden in der Kaserne nur ab und zu einzelne Räume genützt.
„Sowohl die Dauer als auch die Gründe für Leerstände sind so verschieden, dass man das eigentlich nicht verallgemeinern kann. Meistens sind sehr persönliche Gründe die Ursachen des Leerstandes. Oftmals gibt es bei Erbobjekten Probleme, rechtliche Dinge sind nicht geklärt und ein langer gerichtlicher Prozess verwehrt die Nutzung des Gebäudes.“
Für Kulturstadträtin Rücker liegen die Gründe für die vielen Leerstände vor allem darin, dass die Besitzer meist Einzeleigentümer sind. Das seien oft ältere Menschen oder solche, die nicht mehr in Graz leben und damit die Verantwortung für ihr Objekt schwer wahrnehmen können.
„Das ist oft sehr schade, da ein Großteil der Objekte in so gutem Zustand ist, dass man wieder etwas damit machen könnte“, meint Anna Resch dazu. „In unseren Recherchen haben wir herausgefunden, dass so gut wie alle noch am Strom- und Wassernetz angeschlossen sind, wodurch es auch einfach wäre, wieder eine Nutzung zu beginnen. Es ist schon so, dass die Auflagen für die Eröffnung eines Lokales, einer sozialen Einrichtung oder einer Brauerei oft zu hoch sind, um jede Räumlichkeit wiederzubeleben. Einen Raum in ein Kino oder in einen Seminarraum umzuwandeln, wäre aber leicht möglich.“
Mittlerweile sind die beiden Powerfrauen schon am Ausarbeiten einer Geschäftsidee rund um die Nutzung der leerstehenden Objekte. Denn „in den meisten Fällen ist die Bereitschaft der Eigentümer, mit ihrem Leerstand etwas zu machen, gegeben“, so Lisa Enzenhofer. Viele würden nur nicht wissen, an wen sie sich auf der Suche nach einer temporär begrenzten Nutzung wenden sollen. Ob sich das neue Geschäftskonzept an dem der ZZZ orientiert, ist noch unklar.
Schon nach der Ausstellung im Haus der Architektur wurden die beiden vermehrt als Vermittler zwischen Besitzern und Raumsuchenden eingeschaltet. Vielen würden die Ideen und das nötige Know-how fehlen, und manche wissen oftmals gar nicht, dass es so etwas wie temporäre Nutzung gibt. Enzenhofer erklärt allerdings auch, dass sie im Moment sehr oft von unterschiedlichsten Leuten mit den verschiedensten Interessen heraus kontaktiert werden, die auf der Suche nach einer Räumlichkeit sind. Zwischennutzungsobjekte werden für unterschiedlichste Zeiträume gesucht – von einer Stunde bis hin zu Wochen oder Monaten. „Aber“, so Anna Resch, „wir wollen uns nicht auf Zwischennutzung beschränken. Wir wollen es auch schaffen, Objekte auf längere Zeit wiederzubeleben“
Die Finissage der Ausstellung im hda ging im Mai 2013 und auf Wunsch der beiden Kuratorinnen, denen das Gebäude ans Herz gewachsen ist, in der ehemaligen Dominikanerkaserne über die Bühne. Eine würdige – wenngleich sehr kurze Zwischennutzung –, die zumindest für diesen Abend dem altehrwürdigen Gebäude einen Hauch Leben eingeflößt hat.
Von Lisa Putz und Stephanie Schiller