Anlässlich des 75. Jahrestags der Novemberpogrome organisierte der Verein für Gedenkkultur in Graz einen Vortrag von Andrea Strutz in den Räumen des Kunstzentrums < rotor >. Ein anschließender Gedenkspaziergang zu den im Sommer verlegten Stolpersteinen stellte die Geschichten der Menschen hinter den Namen, die auf den kleinen goldenen Steinen überall im Annenviertel eingraviert sind, in den Mittelpunkt.
„Beinahe ausgelöscht“, so betitelte Strutz den Vortrag über das Schicksal einer jüdischen Familie zur Zeit des NS-Terrors in Graz. Die Arbeit der Historikerin basiert auf den Erinnerungen des Familiensohnes Leo, der als Jugendlicher die Enteignung, Demütigung und Vertreibung seiner Familie miterleben muss.
In der Reichspogromnacht, während des Synagogenbrands, den Leo von seinem Zuhause in der Zweiglgasse 14 aus sieht, wird sein Vater zusammen mit 300 anderen Männern von der Paulustorgasse in das Konzentrationslager Dachau deportiert. Im Jänner 1939 kommt er zurück, als „gebrochener Mann“, wie sich der Zeitzeuge erinnert.
Am 12. März 1939 flüchten Verwandte mit dem 11-jährigen Leo zu einem Onkel, der im Juli 1938 mit dem Fahrrad nach Jugoslawien fahren und so dem Pogrom entgehen konnte. Trotz der Kontrolle durch die Gestapo, schaffen sie es kilometerweit zu Fuß durch den Schnee bis zu einem Taxi, das der Onkel geschickt hat.
Im Frühjahr 1940 hofft die Familie auf die Flucht über den Seeweg nach Palästina. Doch dieser Weg bleibt ihnen verwehrt. Dank der Hilfe einer Grazer Freundin kann Leo jedoch allein über den Landweg mit anderen Jugendlichen weiterreisen und gelangt schließlich ans Ziel.
Einzig Leo und seine ältere Schwester Blanka, die rechtzeitig nach Palästina flüchten kann, überleben. Die Eltern, beide Tanten und drei Onkel fallen dem Terror des NS-Regimes zum Opfer.
1953 emigriert Leo nach Kanada. Er zieht nie wieder nach Graz zurück, was wohl unter anderem auf die mangelnde Wiedergutmachung, die er in Österreich erfahren hat, zurückzuführen ist.
Steine und Kerzen
Es ist dunkel. Eine Menschentraube in der Volksgartenstraße 18 umringt zwei kleine goldene Steine, die nur einige Millimeter aus dem Asphalt ragen. Mit Steinen, dem jüdischen Trauersymbol, und Kerzen schmücken die Zuhörer das Mahnmal und die Gedenkstätte von Adolf Lachs und seiner Frau Melanie vor deren einstigem Zuhause.
Antony Scholz, Mitglied der jüdischen Gemeinde Graz, liest auf Deutsch aus dem jiddischen Trauergebet, dem Kaddisch. An diesem und den zwei folgenden Haltepunkten des Gedenkspaziergangs folgen seinem Gebet eine kurze Schweigeminute und tiefe Berührung.
Auch in der Afritschgasse 30 zieren bald Steine und Kerzen den Stolperstein vor Max Steigmanns ehemaligen Zuhause, auch er ein Opfer der Nazis. Kurz vor dem 9.November 1938 wird die von Steigmann, der Jude war, und seiner altkatholischen Frau eingegangene Mischehe geschieden. In den folgenden Tagen verliert der früher angesehene und beliebte Arzt nicht nur Hab und Gut, sondern auch seine Freiheit.
In der Annenstraße 34 durchbrechen 8 Stolpersteine das Grau des Asphalts. Sie erinnern an die Familie Spielmann. Vater Wilhelm Spielmann, vor dem Novemberpogrom noch mit zwei Geschäften im Annenviertel vertreten, verliert nicht nur sein gesamtes Vermögen, sondern auch seinen Sohn Hans, der am 10. Februar 1945 in Auschwitz ums Leben kommt.
„Menschenleben sind etwas Heiliges“, sagt der für den Spaziergang aus Wien angereiste Raoul Narodoslavsky vor dem ehemaligen Haus seiner Großmutter am Südtirolerplatz 10. Im Asphalt vor ihm, ein goldener kleiner Stein, umrahmt von Kerzen. Steine fehlen, denn Clementine Narodoslavsky war keine Jüdin. Sie fällt dem Naziregime zum Opfer, weil sie krank ist. Am 29. April 1936 wird sie erst ins Landeskrankenhaus eingeliefert und von dort schließlich in das Krankenhaus Feldhof, die heutige Landesnervenklinik Sigmund Freud, gebracht. Sie wird im Zuge der nationalsozialistischen Euthanasie umgebracht.
„Im Totenschein steht, sie hat sich stark aufgeregt und ist daran gestorben. Ich würde mich auch aufregen, wenn ich in einer Gaskammer stehen würde“, meint ihr Enkel, der von den gefälschten Totenscheinen weiß, zynisch.
Während seiner Schlussrede kann Narodoslavsky nur den Kopf schütteln:„Den Menschen ging es so oft wirklich schlecht, aber nie kam jemand auf die Idee, andere Menschen zu töten, bloß weil sie krank sind. Menschenleben sind etwas Heiliges. Während des Nationalsozialismus hat man das vergessen.“
Auf den Stolperstein blickend meint er: „Jeder steigt auf dieses Pflaster drauf. Und es tut nicht weh. Aber man schaut vielleicht hin.“