„Arbeitslosigkeit, Prostitution, Kindesmissbrauch …“

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Dieses Jahr werden die VinziWerke 25 Jahre alt. Ihr Gründer, der streitbare Priester Wolfgang Pucher (76), hat 38 soziale Einrichtungen geschaffen, die sich um die sogenannte hässliche Armut kümmern: Menschen, die aus der Bahn geraten sind, Drogen- und Alkoholabhängige, Obdachlose, Haftentlassene, Bettler und viele mehr. Im Interview erzählt Pfarrer Pucher, warum Gott ihm einmal ordentlich den Kopf waschen wird, bei welcher Gelegenheit er aus dem Fenster klettert und was er von Zeltstädten in Österreich sowie dem Zölibat hält.
Wolfgang Pucher im VinziDorf_Fotocredit Cornelia Krebs
Er hat viel bewegt im vergangenen Vierteljahrhundert, hier im heiteren Gespräch mit einem VinziDorf-Bewohner: Armenpfarrer Wolfgang Pucher (links). Foto: Cornelia Krebs

Annenpost: Was hat Sie dazu bewegt, die VinziWerke zu gründen?

Wolfgang Pucher: In Graz-St. Vinzenz gab es damals in der Heßgasse eine Delogiertensiedlung mit 800 Menschen. All das, was man in einem Slum findet, gab es auch dort: Arbeitslosigkeit, Prostitution, Kindesmissbrauch usw. Ich habe völlig verzweifelt versucht, das Los der Menschen zu verbessern. Früher hat es für 30 Wohneinheiten kein einziges Badezimmer gegeben. Aus dieser Erfahrung heraus sind mir in Graz Notfälle bewusst geworden, wo niemand hingeschaut hat. Das sind vor allem die Obdachlosen, die schwer alkoholkrank sind und unter Brücken, in Abbruchhäusern oder auf Parkbänken schlafen. Deshalb habe ich 1990 die Jugend-Vinzenzgemeinschaft gegründet. Gemeinsam haben wir den VinziBus zur Versorgung der Obdachlosen mit belegten Broten und Tee ins Leben gerufen, der bis heute aktiv ist. Damit war der große Bogen gespannt, für das, was wir heute machen.

Woher kommt der Antrieb für all das, was Sie tun?

Ich komme selber aus einer sehr, sehr armen Vergangenheit: Meine Mutter war Witwe mit drei Kindern und wir haben nach dem Krieg wirklich nur das Allernotwendigste gehabt. In meinem Heimathaus hatten wir weder Strom noch Wasser noch WC. Wir haben zwar nie gehungert, aber wir haben gefroren, weil wir nie genug zum Heizen hatten. Da habe ich erlebt, dass meine Mutter – trotz der eigenen Armut – nie jemanden abgewiesen hat, der um Hilfe gebeten hat.

Wären Sie auch ohne Ihrer von Armut geprägten Kindheit zum „Grazer Armenpfarrer“ geworden?

Jetzt muss ich Ihnen eine religiöse Antwort geben: Es gibt im Leben keine Zufälle. Ich bin selber ein großer Versager. Im Gymnasium, wo die zukünftigen Weltpriester ausgebildet werden sollten, habe ich die dritte Klasse mit sieben Nicht Genügend abgeschlossen. Das Seminar hatte damals so viele Bewerber, dass man niemanden wiederholen ließ – ich musste das Haus verlassen. Ich habe herzzerreißend geweint, weil ich dachte, ich kann nicht mehr Priester werden. Mein Erzieher hat das gesehen und mich in die Vinzenzgemeinschaft vermittelt. Auch in meiner Ausbildungszeit war ich nicht immer konsequent und habe meine Augen nach Mädchen ausgestreckt, was ja für die Zukunft völlig undenkbar war, und mich auch verliebt. Ich bin nicht in allen kleinen Detailschritten auf das zugegangen, was ich heute mache, sondern ich bin geführt worden.

Apropos Mädchen und Verlieben: Sie haben sich einmal gegen den Pflicht- und für den freiwilligen Zölibat ausgesprochen. Warum?

Es gibt viele Priester, die den Zölibat nicht leben können oder wollen. Allein in meiner Pfarre gibt es zwei Priester, die geheiratet haben und gegen ihren Willen ihren Beruf aufgeben mussten, obwohl sie mit ganzem Herzen Seelsorger waren. Es ist eine andere Zeit heute. Das Zweite ist das Ernstnehmen der Frauen. Die Kirche hat im Laufe der Jahrhunderte viele großartige Frauen in ihrer Mitte gehabt. Und sie werden immer nur dann geschätzt, wenn sie auf dem ihnen zugewiesenen Platz Großes leisten. Für mich ist mit der Aufhebung des Zölibats automatisch die Zulassung von Frauen zum Priestertum verbunden. Das ist nicht aufzuhalten, das wird kommen – da können sich die Prälaten in Rom wehren, wie sie wollen!


Sie haben einmal gesagt, Sie wären kein guter Priester. Wie kommen Sie darauf?

Der Gründer meiner Ordensgemeinschaft, der heilige Vinzenz von Paul, hat am Ende seines Lebens gesagt: „Ich habe zu wenig getan.“ Er war überzeugt davon, er hätte mehr tun können. Ich glaube nicht, dass ich mich immer restlos verausgabe. Es hat eine kurze Zeit gegeben 1992, als wir Zelte für Flüchtlinge aufgestellt haben, da habe ich mich drei Monate lang bis zur letzten Faser meiner Existenz verausgabt und nichts zurückgelassen damals, was ich noch tun hätte können. Jetzt gerade will ich einfach nicht mehr. Manche sagen mir dann, du musst in deinem Alter auch mal kürzer treten dürfen.

Wolfgang Pucher_mit Heßgasse hat alles begonnen_Fotocredit_Rejola-press.com
Eintrittskarte ins Paradies? Vinzi-Gründer Wolfgang Pucher will mit dem Straßenschild der Grazer Heßgasse begraben werden, die es dank ihm heute nicht mehr gibt. Foto: rejola-press.com


Gehen Sie manchmal Menschen lieber aus dem Weg?

Ja, manchmal versuche ich, Menschen aus dem Weg zu gehen, da habe ich dann ein schlechtes Gewissen. Zum Beispiel wenn das Haus voll ist mit Roma und kein Bett mehr frei ist. Die sind irre zudringlich, sie stehen vor meinem Büro und klopfen eine Stunde lang. Da bin ich vor Kurzem aus dem Fenster geklettert, weil ich mich der Auseinandersetzung entziehen wollte. Ich habe schon des öfteren wütend jemanden weggeschickt und bin dann, schockiert von mir selbst, zurück und ihm nachgegangen und habe ihn zurückgeholt. Aber ich habe auch schon welche nicht zurückgeholt. Und wenn ich einmal vor meinem ewigen Richter stehe, dann wird er mir einiges zu sagen haben. Deshalb habe ich in meinem Testament verfügt, mit dem Straßenschild der Heßgasse, mit der alles in meiner Pfarre begann, beerdigt zu werden. Und wenn mir der liebe Gott dann ordentlich den Schädel wäscht – und das wird er tun und das wird lange dauern -, dann habe ich hinter meinem Rücken das Straßenschild, das ich ihm zeige, wenn er fertig ist.

Sie haben 40 notleidende Menschen, darunter elf Kinder, in Ihr Pfarrhaus aufgenommen, mit denen Sie derzeit zusammenwohnen. Können Sie sich erklären, warum viele Priester ihr Pfarrhaus fest verschlossen halten?

Eine wahre Geschichte dazu: Noch bevor die VinziWerke gegründet wurden, sind von einem Tag auf den anderen 200 Kurden vom Besitzer von vier Abbruchhäusern auf die Straße gesetzt worden. 160 haben wo anders Unterschlupf gefunden, 40 sind zu mir gekommen. Also habe ich jeden Pfarrer in Graz angerufen und ihn gefragt: „Könntest du nicht einen oder zwei bei dir aufnehmen, bis sie etwas gefunden haben?“ Es war Sommer und jedes Pfarrhaus hat Jungscharräume, die in den Ferien leer stehen. Graz hat 40 Pfarren – jeder hätte einen nehmen können. Ein Drittel der Pfarrer hat dann Ja gesagt, aber am Ende konnte ich alle unterbringen. Jedoch kann ich mich nicht erinnern, dass ich mich – außer bei der Zeltaktion vor 23 Jahren – noch einmal so anstrengen musste.

Derzeit werden in Österreich wieder Zeltstädte errichtet. Wie denken Sie darüber?

Da ist nur das Wort „Zeltstadt“ gemein, die Situation ist eine völlig andere. Heute gäbe es genügend Ressourcen und Bereitschaft in der Gesellschaft auf Zelte verzichten zu können. Damals hat es niemanden gegeben, der diese 100 bosnischen Deserteure, die am Bahnhof gelebt haben, betreut hätte – es hat sich jeder geweigert. Sie hatten kein Quartier, nichts zu essen und keine Papiere. Da war ein Aufstand in der Pfarre gegen mich wegen der Zeltstadt. Ein ganzer Straßenzug hat Unterschriften gegen mich gesammelt und beim Bischof mit dem Brief hinterlegt: „Wenn der Pfarrer Pucher nicht wegkommt, dann treten wir geschlossen aus der Kirche aus.“

Ärgert es Sie manchmal, dass Sie als eitel bezeichnet werden?

Die, die nicht eitel sind, mögen das selbe tun in Uneitelkeit.

[box] Bis zu 450 Menschen finden täglich Unterkunft in den VinziWerken und rund 1300 Personen werden jeden Tag mit Essen versorgt. Die vielfältigen Aktivitäten der VinziWerke finanzieren sich über Spenden. Hier die Möglichkeit, einen Beitrag zu leisten: www.vinzi.at [/box]
Wolfgang Pucher_Fotocredit Cornelia Krebs
Der Grazer Armenpriester ist stets in Bewegung. Foto: Cornelia Krebs

Der „echte Steirer“ René Jo. Laglstorfer (Rejola) aus Steyr in Oberösterreich reist am liebsten durch die Welt und spricht fünf Sprachen. Er ist genauso umgänglich wie neugierig – die idealen Voraussetzungen um später als Allround-Journalist Fuß zu fassen.
www.presse-buero.info (Rejola)

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