Genau 77 Jahre nach den Novemberpogromen eröffnete in der Grazer Synagoge das „Haus der Namen“ – ein Gedenkzentrum für alle Jüdinnen und Juden, die während des Holocaust verfolgt und getötet wurden. Es ist das erste in Österreich. Die Schicksale von Bertl und Adele, zweier Grazer Kinder, sind der rote Faden, der durch die Ausstellung führt und versucht, Besuchern die Gräuel der NS-Zeit näher zu bringen.
9. November 1938: Der Mob war entfesselt. Juden wurden durch die Grazer Gassen getrieben, gedemütigt, verletzt. Trauriger Höhepunkt: Der damalige Grazer Bürgermeister Julius Kaspar warf die erste Brandfackel in die Synagoge. Schaufenster jüdischer Geschäfte wurden zertrümmert, die Reichspogromnacht tobte.
Genau 77 Jahre später, am 9. November 2015, eröffnete das „Haus der Namen.“ Ruth Kaufmann, Präsidentin des Israelitischen Kultusvereins Graz, führt durch die Ausstellung. Zu Beginn: ein großes Bild der Synagoge im Jahr 1938. Direkt daneben: eine Abbildung des letzten Rabbiners der Gemeinde, David Herzog (Reichspogrom- Mahnmahl bald Geschichte). Man kommt an Bildern vorbei, die betroffen machen. Manche nehmen einem den Atem: Viehwagons, in die man die Menschen zum Transport in Konzentrationslager pfercht, Gaskammern, Krematorien. Noch drastischere Bilddokumente habe man aber bewusst ausgespart. Man wolle mit der Ausstellung auch Kinder und Jugendliche erreichen. „Wir wollen die Jugend nicht verschrecken oder abstoßen, sondern ihnen näher bringen, was durch Rassismus und Hetze passieren kann“ erläutert Ruth Kaufmann. Besonders nahegehend: Ein Endlostonband, das monoton die Namen ermordeter jüdischer Menschen in den Ausstellungsraum hallen lässt.
ADELE UND BERTL
Durch die Ausstellung führt, wie ein roter Faden, die Geschichte von Bertl Kaufmann, dem Vater von Ruth Kaufmann, und Adele Kurzweil. 1938 waren die beiden zwei 14- jährige Kinder aus Graz, die einander nicht kannten, jedoch durch ein gemeinsames Schicksal verbunden waren: Beide wurden von Nazis verfolgt. Bertl war Jude. Er mochte das Judentum, ging gerne in die Synagoge, liebte die jüdischen Bräuche. Adele war ein Mädchen, dessen Großeltern jüdisch waren, ihre Eltern waren lange vor 1938 aus der Gemeinde ausgetreten. Sie selbst fühlte sich nie als Jüdin.
Bertls Vater wurde in das Konzentrationslager Dachau deportiert. Als einer der wenigen hatte er das Glück, wieder nach Hause zu kommen, weil er mit Familienschmuck einen SS-Mann bestochen hat. Mit ausgeschlagenen Zähnen und schwer traumatisiert kehrte der Vater zurück nach Graz – und wollte nichts anderes als weg und seine Familie beschützen. Sie flüchteten: Zypern, Israel und der Sudan waren die Stationen. Abgeschnitten vom Rest der Welt bekam die Familie von den schrecklichen Gräueln, die sich in der Zwischenzeit in Österreich abspielten, nicht viel mit.
Adeles Eltern flüchteten zu spät. Sie wurden ins Konzentrationslager Auschwitz gebracht, wo sie ermordet wurden. Der letzte Tagebucheintrag der damals 18jährigen ist ebenfalls in der Ausstellung zu sehen:
„Ich weiß nicht, wie ich das alles in Worte fassen soll. Ich kann meiner Angst keinen Ausdruck geben. Wie kann ich diesen Geruch beschreiben? Wie diese unerträglichen Schreie? Jede Sekunde ist unendlich. Wo ist Gott? Warum?“
Die öffentliche Hand hat das “Haus der Namen“ unterstützt, Landeshauptmann Hermann Schützenhöfer (ÖVP) sah in seiner Rede das Gedenkzentrum als wichtigen Schritt in die richtige Richtung: „Nur wer die Geschichte kennt, kann die Gegenwart bewältigen und die Zukunft meistern.“ Und der Grazer Bürgermeister Siegfried Nagl (ÖVP): „Gerade heutzutage braucht es wieder drei Dinge: Haltung, Information und Begegnung.“ Diese Information möchte das „Haus der Namen“ mit seiner Ausstellung liefern, auch Begegnungen wird es geben: Für den 13. März 2016 ist ein Tag der offenen Tür in der Synagoge geplant, um den Besuchern die jüdische Gemeinde und das jüdische Leben, wie es heute stattfindet, näher zu bringen.
ZUKUNFT
Der letzte Teil der Schau, im zweiten Stock der Synagoge, steht für die Zukunft. Es gehe darum, Menschen als Individuen zu beurteilen und nicht nach Rasse, Gruppenzugehörigkeit oder Religion, erklären die Ausstellungsguides den Besuchern. Es gebe aber keine Zukunft ohne Vergangenheit. Als zentrales Objekt des Zukunftsraumes dient ein schlichter weißer Kieselstein unter einem Glassturz als Symbol für das Opfer Adele. Unzählige weitere Steine in und um die Synagoge erinnern an die sechs Millionen im Holocaust ermordeten Menschen. Nicht nur an Juden, auch an Homosexuelle, Sinti und Roma.
„Nun sind wir an der Reihe, mit Menschlichkeit und Aufklärung dafür zu sorgen, dass etwas derartiges nie wieder passieren kann. Es ist unsere Aufgabe zu informieren, welche Folgen Hass und Hetze nach sich ziehen können“- Ruth Kaufmann
Politikern wie Susanne Winter, die mit antisemitischem Gedankengut sympathisierten, möchte das gesamte Team übrigens nahe legen, sich im Haus der Namen weiterzubilden und über die damalige Zeit zu informieren.
Kontakt:
Israelitischer Kultusverein Graz
David Herzog Platz 1, 8020 Graz, Österreich
+43 316 712468
http://www.ikv-graz.at/deutsch/haus-der-namen