11. November, punkt 10 Uhr: Die komplette Annenpost-Redaktion zur selben Zeit am selben Ort. Was daraus entsteht? 20 Szenen, der Grazer Hauptbahnhof aus 20 Perspektiven. Warum wir das tun? Weil alles im Leben mehrere Seiten hat. Eine Auswahl.
Am Vorplatz
Aus dem Schatten des Bahnhofsvorplatzes schlurft eine gebeugte Frauengestalt ins Sonnenlicht. Blaue Augen, nicht wach aber doch intensiv, die suchend umherwandern. Tiefe Falten, die Geschichten erzählen. Nun hat das Augenpaar gefunden, was es sucht. Blau auf blau und eine Frage: „Ham Sie sieben Euro?“ Mutige Forderung, mutige Frau. Sieben – eine magische Zahl. Die blauen Augen hoffen auf Wunder. Die Frau kehrt um und verschwindet wieder im Schatten. (C. Rebhahn)
Ein Mann kommt auf mich zu, fragt, ob ich eine Zigarette für ihn habe. Nein, leider. Er fragt mich um Essensgeld für seine Kinder. Er sagt es mit einem Bier in der Hand. Wenigstens einen Euro. Ich würde gerne, aber „ein Euro“ klingt zu sehr nach „einem Bier“. Später sehe ich ihn den Spar verlassen – eine neue Dose in der Hand. (K. Brunner)
Zwei Männer hocken am Wegrand. Sie plaudern. Plötzlich fährt einer lautstark auf, wirft Müll auf den Weg. Zwischenmenschliches Unwetter bei strahlendem Sonnenschein? Der zweite lässt ihn ausreden. Nach seiner aufbrausenden Rede erhebt sich der erste, stützt die Hände in die Hüfte und wartet, bis auch der zweite aufsteht. Wie die Wolken nach einem Sturm ziehen sie in Frieden davon. (C. Ozlberger)
In der Bahnhofshalle
Er trägt ein neon-gelbes Trainingsshirt. Das Haar weiß, stachelig nach oben gekämmt. Ein kleiner Buckel sitzt zwischen seinen Schultern, die gebräunten, ledernen Arme umklammern eine Metallstange. Rund um ihn acht Männer, Mitte zwanzig. Alle strecken und ziehen im Rhythmus. Alle in derselben gläsernen Fitnessbox mit Blick auf die Bahnhofshalle. Es ist noch früh. Einige schwitzen schon. Sie blicken um sich, vergleichen Muskeln, Kraft. Nur der Alte fällt aus der Reihe. (I.Wallnöfer)
„Darf ich Ihre Hilfe in Anspruch nehmen? Ich glaube, der Automat nimmt keine deutschen Eurostücke, nur österreichische. Das ist mir beim Getränkeautomaten auch schon passiert.“ Schwer bepackt stopft die alte Dame ihre Gepäcksstücke in ein freies Schließfach. Alleinreisend, fremd in der Stadt. Dafür offen und gesprächig. (H. Meizenitsch)
In der Bahnhofshalle verkauft der altbekannte Zeitungsverkäufer die Schlagzeilen des Tages. „6 wichtige Fragen zur Asylkrise“ titelt die Kronen Zeitung. Keiner sieht keinen. Alltag eben. Unten im Personentunnel zu den Bahnsteigen warten Menschen aus Afghanistan, Pakistan und Syrien auf ihre Weiterreise. Unbekannte, fremde Gesichter. Gedränge in gedämpftem Licht, die Luft ist abgestanden. Keiner weiß, was die Zukunft bringt. Und plötzlich ist da ein Blick, ein Hallo. Mitten in mein Gesicht. (K. Siebert)
Ein Mann mit grünem Federhut beschwert sich über fehlendes Wechselgeld. Fünf Euro hat er für seine Kronenzeitung gezahlt, aber nur 1,50 zurückbekommen. So viel ist sie definitiv nicht wert, schimpft er. Kopfschüttelnd verneint die Frau an der Kassa. „Press&Books“ prangt auf ihrer Brust. Rundum meterhohe Regale, voller Tipps für perfektes Perlhuhn und besseren Sex. Vereinzelt weiße Blätter im gelben Pressemeer. (D. Retschitzegger)
Durch den Tunnel
Polizisten stehen neben dem Mann mit knallbunten Haaren und Piercings durch Nase und Lippe. Über dem Punk-Band-Pulli trägt er eine weiße Weste. In Großbuchstaben darauf “Caritas”. Ankommenden Flüchtlingen weist er den Weg zum Bahnsteig. Dankbar ziehen sie weiter. “Bastard”, ruft ein junger Mann, der auf seinem BMX-Rad vorbeifährt. (I. Gindl)
Stiege runter. Langer Gang, graue Fliesen. Rechts, dicht gedrängt an der Wand, eine Menschengruppe: Säuglinge, Uromas. Sie haben einen dunklen Teint, sprechen eine fremde Sprache und tragen Matten in der Hand. Links, aufgereiht mitten im Gang, Uniformierte: 30 bis 40 Jahre alt. Sie haben helle Haut, schauen streng und tragen alle die gleiche Kappe am Kopf. Ein Lokführer bahnt sich den Weg zu ihnen. (V. Maier)
Gruppen von Menschen im Tunnel, eng aneinander gedrängt. Ein kleiner Junge mittendrin. Blaue Jacke, braune Haare, einen Herzluftballon in der Hand. Er dreht sich im Kreis, immer schneller und schneller, er spielt ein Spiel mit sich allein. Abrupt hält er inne. Wir sehen uns an, grüne Augen treffen braune Augen. Zwei Münder verziehen sich zu einem Lächeln, unsere Hände gehen in die Höhe, ich gehe in die Knie. Klatsch – High Five! (A. Holzhacker)
Am Bahnsteig
Das Ende des Bahnsteigs, ein Stoppschild verhindert das Weitergehen. Ein Flüchtlings-Sonderzug steht für Fahrgäste bereit. Aus dem Fenster der Lokkabine lehnt entspannt der Zugführer. Seine rechte Hand hält er schattenspendend an die Stirn, um gegen die blendende Sonne blicken zu können. Dann senkt er seinen Blick und spuckt auf den Bahnsteig. Punkt zehn. Mit der Rechten greift er nach einem Feuerzeug, um gemütlich eine Zigarette zu qualmen. (R.Szeberényi)
Die Bahnsteige sind fast leer. Hitzige Diskussion zwischen fünf Männern auf Bahnsteig 7, zwei von ihnen tragen orange Warnwesten. Sie lösen das Problem. Die ersten Flüchtlinge steigen in den Sonderzug. Kinder, Frauen und Männer jeden Alters, bepackt mit Plastiksäcken, Rucksäcken und Taschen. Aus einem Fenster des bald vollen Zuges beugen sich drei Männer, warten auf die Weiterfahrt. Es ist ganz still, nur im Inneren des Zuges schreit ein Baby. (A. Bischof)
„Was is des für a Scheiß?“ Ein junger Mann auf einem BMX zeigt wenig Herz. Die nächste Gruppe Flüchtlinge schleppt sich zum Bahnsteig hinauf. An ihnen strömen Passanten vorbei, Frühstücksgebäck in der Hand, Aktentaschen. Scheinbar unbeeindruckt, nur kurz schrecken einige beim Anblick der Polizeiuniformen und der Warnwesten auf. In glänzender Funktionskleidung läuft ein Jogger quer durch den düsteren Gang. Lautes Stimmengewirr, schlichtende Helfer. Viele offene Fragen. (C. Istel)
Zwei Frauen, eine Mitte 30, die andere in ihren 50ern, sitzen mit dem Rücken zu Gleis 7. Sie blicken über ihre Schultern, dann drehen sie ihre Oberkörper mit. Sie starren. Plötzlich fühlen sie sich ertappt und wenden ihre Blicke von der Szene ab. Die Neugierde siegt. Sie drehen sich wieder um, runzeln die Stirn, tuscheln, nicken. Diesmal bleiben ihre Blicke kleben. (A. Liedl)
Der weinende Bub wird liebevoll von seinem Vater über den Bahnsteig getragen. Für einen kurzen Moment verstummt der Bub – vor Erschöpfung muss er sich übergeben. Fürsorglich fängt der Papa die Strapazen der langen Reise auf. Keiner macht was, niemand sagt was. Der Vater drückt seinen Sohn ganz fest an sich. (C. Oberreßl)
Ein kleiner Bub, zwei, drei Jahre alt. Er spielt Abfangen mit einem zweiten Kind. Lautes Lachen. Kannten sich die beiden schon von früher? Haben sie sich auf der Flucht getroffen? Dolmetscher zeigen ihnen ihr Zugabteil. Die Freunde werden getrennt. Bittere Tränen. Kurz darauf finden sie sich wieder. Gemeinsam am Weg in eine bessere Zukunft. (H. Felbinger)
Bahnsteig 5, zwei einander fremde Frauen. Rothaarig und klein. Braunhaarig und groß. Nebeneinander sitzen sie, ein leerer Platz dazwischen. Die Rechte deutet auf die Zeitung der Linken. Nun lesen sie gemeinsam. Fremd, es kümmert sie nicht. Angeregt tauschen sie sich aus. Wieder ein Blick in die Zeitung, das nächste Thema diskutieren. So viel Fremdes am Bahnsteig, doch das Leben geht weiter. (J. Czipoth)
Am Heimweg
Eine Nonne quert den Platz mit forschen Schritten, schwarzbestrumpfte Beine in schwarzen Budapesterschuhen. Sie nimmt die Rolltreppe zu den Straßenbahngleisen, drängt sich an den Stehenden vorbei, hastet zur Zeitanzeigetafel. Und stoppt. Hinter ihr eine Roma Familie, zwei kleine Buben, wirres Haar, dunkle Haut. Der Vater trägt einen schwarzen Schnurrbart, die Mutter eine Dose Puntigamer in den knotigen Händen. Die Nonne wirft einen langen Blick über die Schulter. Dann geht sie einen Schritt zur Seite. (R. Opis)
Spaziergang in der Kleinidylle, Bäume mit goldenen Blättern, rundherum Asphalt. Ein Schoßhündchen hüpft gut gelaunt neben den neongrünen Sneakers seines Besitzers. Dann bleiben beide stehen. Mit starrem Blick auf das Postgebäude reißt der Mann seinen vernarbten Mund weit auf – ein Bild wie Edward Munchs Schrei. Eingefroren steht er eine Zeit lang da. Was beschäftigt ihn? Schließlich gibt er dem Zerren an der Leine nach und spaziert weiter. Der Schrei hat sich in sein Gesicht eingebrannt. (M.Jaindl)
Zwei Busse warten hier, fernab vom Bahnhofstrubel, auf ihren Einsatz. Davor tummeln sich die elegant gekleideten Fahrgäste, alle mit weißem Haar und faltiger Haut. Mit lauter Stimme unterhalten sie sich angeregt. Türen öffnen sich, alle stürmen hinein – natürlich nicht, ohne dabei sorgfältig erfasst zu werden. Niemand soll vergessen werden beim Ausflug des Pensionistenverbandes. (M. Steinrisser)