Als Pokémon-Trainerin die Annenstraße einmal rauf und wieder runter. Extrem abenteuerbereit, Pokéballs in der Tasche und auf der Suche nach raren Pokéwesen und neuen Kumpels.
„Des is der Server, der net funktioniert“, sagt der junge Mann mit roten Haaren zu mir, Smartphone in der Hand und die Mama und Hund neben sich. Sie beide steuern auf den Hauptbahnhof zu, denn dort wartet eine der Arenen für die Pokémon-Trainer der Annenstraße.
Bevor ich mich selbst dorthin aufmache, gilt es, auf dem Weg durch die Annenstraße erst noch mehrere Pokéstops abzuernten. Dort sammle ich Pokébälle und Eier. Letztere kommen in die Brutmaschine und nach 2 oder 5 Kilometern Fußmarsch habe ich meinen eigenen Pokémon großgezogen. Der erste Stop heißt „Krankenhaus der Barmherzigen Brüder“, die ersten Bälle hab ich, danach fange ich meinen ersten Schillok in der Dominikanergasse, ein Wasser- und Starter-Pokémon, das aussieht wie eine Kreuzung aus Schildkröte und Kaninchen in Hellblau. Nächster Pokéstop: die „Mutter mit Kindern“ an der Hauswand über dem Schuhgeschäft Deichmann. Gleich nach dem Annenhofkino kommen die „Stolpersteine Annenstraße“ am Gehsteig. Sie wurden erst vor einem Monat an dieser Stelle verlegt,
zum Gedenken an die Familie Blüh, die genau hier lebte und vor den Nazis flüchten musste. Kurios, dass jetzt hier ein Pokéstop eingerichtet ist. Auch weil die Daten der meisten Stops aus dem Vorgängerspiel von Pokémon Go – von „Ingress“ – übernommen wurden, dort konnten Spieler selbst bis vor einem Jahr „Portale“ einreichen. Die „Stolpersteine“ muss also jemand erst kürzlich hinzugefügt haben. Auch bei Ingress gab es bereits Debatten darüber, ob sich Gedenkorte der Schoah und des Holocaust wirklich für digitale Schnitzeljagden eignen.
Meine Kumpels und die brenzlige Straßenüberquerung
In Beschreibungen des Spiels heißt es, die Spieler machen sich bei Pokémon Go auf in die reale Welt, suchen Poké-Stops und fangen Monster. Es sind nicht nur die typischen Gamer, die es auf die Straßen zieht. Junge Mütter und Väter, Männer mittleren Alters, Jugendliche, Geschäftsmänner finden sich unter den Trainern, die einem in der Annenstraße begegnen. Alle mit dem Smartphone in der Hand – und erhascht man nur einen kurzen Blick darauf, weiß man Bescheid: Sie gehören auch dazu. Eine ältere Dame sitzt im Café Foyer und ruft mir beim Vorbeigehen wissend „Pikachu“ zu.
Anfangs war ich allein unterwegs, aber mittlerweile schlendere ich so halb mit drei jungen Männern mit. Einer mit Skateboard, einer mit Tattoos und einer mit Sneakers und weißen Socken. Den Tätowierten und mich verbindet etwas: das Handy in der Hand. „Du auch?“, frage ich. Er so „Ja“. Und schon gehöre ich ein bisschen dazu. Ziemlich sozial dieses Pokémon Go, denke ich mir und höre die anderen zwei jungen Männer fluchen, der mit den Tattoos solle doch endlich vom Handy aufschauen. Da kommt mir meine letzte Straßenüberquerung Höhe Annen Café in den Sinn, wo ich fast in einen Fahrradfahrer reingelaufen wäre, weil ich schnell noch den einen Rattfratz fangen wollte. „Holy Prayer“, war das brenzlig! „Holy Prayer“ heißt übrigens ein weiterer Pokéstop im Viertel, gleich nach der Barmherzigenkirche. In den USA, wo die App nach Japan, Australien und Neuseeland released wurde, gibt es zu Verkehrschaos schon Material im Web, wie den Ansturm auf den seltenen Pokémon Vaporeon im Central Park.
„Pokémon Schutzgebiet“ im Happy Day ausgerufen
Auf der Suche nach Hilfe, weil mein iPhone 4s anscheinend mit der neuen App und die App selbst mit dem großen Ansturm überfordert ist, stoße ich ausgerechnet auf das Café „Happy Day“ . Es hat auf der Straße ein Schild mit der Aufschrift „Pokémon Schutzgebiet“ aufgestellt. „Warum denn das?“, frag ich nach. Da lachen die zwei hinter der Theke nur, die Kellnerin findet den ganzen Hype jedenfalls blöd. Und trotzdem sitze ich jetzt mitten am Nachmittag im verrauchten „Happy Day“ am Tresen mit zwei Männern und lass mir Pokémon Go erklären. Eine andere Arena sei noch beim Volksgarten, Eingang Volksgartenstraße. Den Pokéball solle ich beim Angriff auf ein Pokémon in kleinen Kreisen rumwirbeln, dann zielt es sich besser. Raus aus der Pokémon Go-freien Zone, die keine ist, und wieder rein ins Getümmel. Ein „Catch’em all“ zum Abschied und ich bin wieder im Game.
Meine drei Fast-Kumpels hab ich zwischen Pokéstop „Stolpersteine Annenstraße“ und „100 Years Esperanto“ am Esperantoplatz verloren. Jetzt sehe ich sie wieder auf einer Bank vorm B&B Café sitzen. „Braucht’s eine Pause?“, rufe ich ihnen zu und wir lachen. Gar nicht so uncool, einmal kurz auf einer Hype-Welle mitzureiten. Der Anstieg die Annenstraße rauf hat sich gelohnt, oben rechts neben dem Zebrastreifen zum Hauptbahnhof fange ich wieder mal ein Mauzi und der Server hält es diesmal sogar aus ohne abzustürzen. Dann treffe ich den Jungen mit seiner Mama wieder, beide noch immer das Smartphone in der Hand, der Hund läuft so nebenbei mit. Ob sie denn ohne Pokémon Go gemeinsam spazieren gegangen wären, frag ich. Sie lachen nur und verneinen. Pokémon Go für Familienzusammenführungen? Sie wünschen mir noch viel Spaß und ich soll die App mal aus und wieder an machen, das hilft. Danke, euch auch noch viel Spaß.
Erfolg war erwartet, aber nicht in dem Ausmaß
Eine massive Serverüberlastung hält mich vom Aufstieg in den nächsten Level ab. Den Arena-Besuch am Bahnhof spare ich mir gleich. Auf diversen Gamer-Webseiten findet man Genaueres, über die Server-Abstürze, die die Annenstraße und ganz Europa heimsuchten. Die Produzenten der App hätten zwar mit Erfolg gerechnet, wohl aber nicht mit einem so großen Ansturm. Die Nintendo-Aktie erlebt derzeit übrigens einen rapiden Anstieg, wie auch Die Presse berichtete.
Genug gejagt
Auf der anderen Straßenseite gehe ich jetzt wieder die Annenstraße runter, bleibe immer wachsam und behalte meine Umgebung im Auge. Bekannte Gesichter von meinem Spaziergang nach oben, junge Väter, kleine Gruppen – alle mit dem Smartphone in der Rechten. Ein kleines Mädchen sitzt an der Bushaltestelle und lacht mich sehr an, als sie mich mit meinem Handy in der Hand sieht. Dann kreuzt ein junger Mann meinen Weg und sagt mir, ich sehe heute hübsch aus. Ja, danke, sag ich. Immer gut fürs Ego. Ein Mädchen, das mich angrinst und ein Kompliment – wär mir das auch ohne Pokémon Go passiert?