Bei einem Anrainertreffen in der Arbeiterkammer klagten BewohnerInnen zuletzt über die zunehmende Unsicherheit im Annenviertel. Was ist dran an den Sorgen? Und was kann man dagegen tun? Eine Recherche.
Die Stimmung in der Arbeiterkammer ist aufgeheizt, während Werner Miedl, Chefinspektor und Geschäftsführer des Vereins „Sicher Leben in Graz“, mit Angestellten und VertreterInnen der Wirtschaft im Annenviertel die aktuelle Lage in den Bezirken Lend und Gries bespricht. Mehrere weibliche Angestellte der Uniqa-Versicherung in der Annenstraße klagen über sexuelle Belästigung und aufdringliches Verhalten junger Männer, geben an, sich abends nicht mehr alleine auf die Straße zu trauen. Manfred Mosbacher, Miteigentümer des Styria-Centers, beschwert sich über Bettler, die sich aggressiv gegenüber der Kundschaft verhielten, teilweise bereits in Lokalen von Tisch zu Tisch gehen würden. Vertreter anderer Geschäfte beklagen, man könne sogar Eingänge für LieferantInnen quasi keine fünf Minuten mehr unbeobachtet lassen, ohne das sich Drogendealer dort sammeln. Auf Miedls Frage, ob jemand der Anwesenden öfters in Parkanlagen wie dem Volksgarten unterwegs sei, antwortet ein Gewerbetreibender aus Lend spöttisch: „Sind Sie wahnsinnig?! Nein, viel zu gefährlich!“
Doch die Meinungen über die aktuelle Situation gehen weit auseinander. Ein anderer Geschäftsbesitzer erzählt, dass er seit über zwanzig Jahren im Annenviertel ansässig ist, und noch nie ein Problem mit Ausländern gehabt habe. Für ihn sind Pauschalisierungen und der mangelnde Wille der Stadtregierung, soziale Probleme anzupacken, das größere Übel. Miedl versucht als Mediator aufzutreten, die erregten Gemüter zu beschwichtigen. Schließlich handelt es sich bei der Veranstaltung um einen sogenannten DESSI-Prozess, ein Instrument, das vom Wiener Institut für Rechts-und Kriminalsoziologie erfunden wurde und im Viertel mehrmals zum Einsatz kam. Ziel dieses Prozesses ist es, BürgerInnen stärker in die Lösung aktueller Probleme im Viertel miteinzubeziehen, statt nur darüber zu streiten, wer an Problemen Schuld trägt. Der Prozess an diesem Abend endet zwar mit verschiedenen Lösungsvorschlägen, wie zum Beispiel eine gemeinsame Begehung der Annenstraße mit AnrainerInnen und Polizei um potenzielle Angsträume zu benennen, oder das Anbringen von speziellen Beleuchtungsanlagen in öffentlichen Parks, ein wirklicher Konsens unter den TeilnehmerInnen ist jedoch nicht spürbar.
Laut Kurt Kemeter, Stadtpolizeikommandant der Landespolizeidirektion Steiermark, befindet sich die Rate bei Suchtgift- und Gewaltdelikten in den Bezirken Lend und Gries in den letzten Monaten stetig im Steigen, auch tätliche Auseinandersetzungen wegen Konflikten aus dem Drogenmilieu sind ein Thema. Afghanen, Somalier und Nordafrikaner stünden sich hierbei besonders oft rivalisierend gegenüber. Über die Herkunft der Täter werden grundsätzlich zwar keine genauen Statistiken geführt, man gehe jedoch davon aus, dass es sich beirund 70 bis-80 Prozent der TäterInnen von Drogendelikten um Menschen mit Migrationshintergrund bzw. um Asylwerber handelt, so Kemeter. Grund zur Panik sieht er deswegen jedoch nicht, da sich statistisch gesehen die Situation in Lend und Gries im Vergleich zu anderen Bezirken Graz nicht dramatisch verschlechtert habe.
Auf politischer Ebene trifft man, wie zu erwarten, auf äußerst unterschiedliche Einschätzungen der Situation im Annenviertel. Hubert Bayer, freiheitlicher Bezirksrat von Lend, beschreibt die Gegend als „Dealerzentrum von Graz“, in dem man mittlerweile gut daran tue, nachts nichtmehr das Haus zu verlassen, da die Gewaltbereitschaft auf den Straßen deutlich gestiegen sei.
Anders sieht das Wolfgang Krainer, ÖVP-Bezirksvorsteher von Lend. Als besonderes Problem nennt er die sogenannten „NEET-People“ (Not in Education, Employment or Training), sprich junge Menschen, die keine Schule besuchen, sich nicht in einer Berufsausbildung befinden und auch keiner geregelten Arbeit nachgehen. Sie seien besonders vom sozialen Abstieg bedroht und daher auch mehr gefährdet, in die Kriminalität abzurutschen. Allerdings könne man nicht sagen, dass es sich dabei nur um Ausländer oder Menschen mit Migrationshintergrund handle. Auch die vieldiskutierte Verunsicherung in der Bevölkerung spüre er nicht: „Es hat in Österreich immer schon einen gewissen Prozentsatz gegeben, der sehr einseitig auf die Ausländer geschimpft hat, das sind heute wie vor zwanzig Jahren immer dieselben.“
Geteilt wird diese Meinung von Lydia Bissmann, KPÖ-Mitglied der Bezirksvertretung Gries. Sie ist der Meinung, dass die bestehenden Probleme nichts mit der Herkunft zu tun haben, sondern eine Frage der sozialen Schichten sei. Auch hätten es männliche Jugendliche mit Migrationshintergrund in Arbeiterfamilien oftmals schwerer, eine schulische Laufbahn einzuschlagen, da sie früher in die Rolle des Familienernährers gedrängt würden.
Außer dem DESSI-Prozess gibt es weitere Initiativen, um der Bevölkerung ein stärkeres Gefühl von Sicherheit zu vermitteln. Im April startet das Innenministerium das Pilotprojekt „Gemeinsam sicher“. „Community Policing“ nennt sich der Versuch, das subjektive Sicherheitsgefühl der Menschen durch die Zusammenarbeit speziell ausgebildeter Polizisten und SicherheitsbürgerInnen zu erhöhen. Ein Zwischenergebnis dieser Initiative ist das neue „Sicherheitsinformationszentrum“ am Lendplatz, in dem sich die ViertelbewohnerInnen wichtige Ratschläge zur Verbrechensvorbeugung holen können. Dem Verein „Sicher Leben in Graz, der bei der Gründung des Zentrums federführend war, geht es darum, Strategien zur Hebung des Sicherheitsgefühls der Bevölkerung zu entwickeln und gleichzeitig die städtische Kriminalität bereits vor ihrer Entstehung zu verhindern. Laut Werner Miedl werde man sich deswegen in Zukunft um „Kiezläufer“ bemühen. Das sind ausgewählte, ehemalige Asylwerber mit inzwischen positivem Asylbescheid, die von der Polizei eine spezielle Schulung erhalten. Sie sollen einen Draht zu potenziell gefährdeten Landsleuten herzustellen, um zu vermeiden, dass sie straffällig werden. Vor Ostern sei das Projekt allerdings noch nicht realisierbar, so Miedl.
Laut FPÖ-Bezirksrat Bayer brauche es insgesamt mehr Polizei auf der Straße, sowie einen geregelten Zuzug von Ausländern ins Annenviertel, damit sich die Situation bessern könne. Allerdings sei hierbei in erster Linie die Regierung gefragt, und nicht die Lokalpolitik. ÖVP und KPÖ hingegen fordern für die Lösung der bestehenden Probleme mehr Sozialarbeiter und Betreuungsarbeit sowie mehr Unterstützung für Jugendeinrichtungen.Im Jugendzentrum der Young Active People (YAP) selbst spielt Gewalt zwischen unterschiedlichen Kulturen nur eine untergeordnete Rolle, so Mitarbeiter Florian Hasiba. Ungemütlicher werde das Klima nur, wenn ein internationaler Konflikt am Hochkochen sei, wie zum Beispiel in letzter Zeit zwischen der Türkei und kurdischen Autonomiegebieten in Syrien. Als größere Probleme werden patriarchale Familienstrukturen und das immer häufigere Auftreten von antisemitischen Einstellungen genannt. Der Islam und religiöse Prinzipien spielen zwar eine Rolle, allerdings mehr zur Bildung einer eigenen Identität als hinsichtlich der tatsächlichen Ausübung. Wichtig ist den ArbeiterInnen der YAP, dass der Dialog im Mittelpunkt steht, die Erwachsenen als Vorbilder fungieren und den Jugendlichen so die Möglichkeit gegeben wird, ein Teil der Gesellschaft zu werden.