„Hüte deine Hände, deine Zunge und deine Lenden!“

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Zum ersten Mal fand der Interkulturelle Tag der Begegnung in der Alevitischen Kulturgemeinde statt. Von der Caritas ins Leben gerufen, kamen am 30. März zahlreiche Interessierte in Gries zusammen, um dort gemeinsam mehr über das Alevitentum zu erfahren.
Stellvertretende Obfrau Fadime Jamnigg (links) und Obmann Mehmet Ali Demir (rechts) arbeiten seit Jahren im Alevitischen Kulturverein. Foto: Tabea Krämer

Ein Ort der Begegnung
Freudig überrascht stellt der Vortragende Günter Jamnigg fest, dass der Einladung der Caritas mehr Personen als erwartet gefolgt sind. Etwa 20 NachbarInnen jeden Alters lassen sich darauf ein, eine gesellschaftliche Randgruppe kennenzulernen. Obwohl alle Besucher freien Blick auf das reichlich gedeckte Buffet haben, stellen sie Fragen über Fragen zu Geschichte und Bräuchen der religiösen Gemeinschaft. Genau das ist eines der wichtigsten Ziele des Alevitischen Kulturvereins Graz: Ihren Glauben bekannter machen. Dabei sollen auch die Lebensphilosophie, die kulturelle Identität und die religiösen Werte, der in Österreich lebenden AlevitInnen, bewahrt werden. Die stellvertretende Obfrau, Fadime Jamnigg, kümmert sich mit Hingabe um die sozialen, religiösen und kulturellen Angelegenheiten der 76 Familien, die derzeit in Graz als Mitglieder des Alevitischen Kulturvereins eingetragen sind. In Österreich leben rund 80.000 AlevitInnen – eine religiöse Minderheit.

Interessierte aller Altersgruppen lauschten mit großem Interesse dem Vortragenden. Foto: Tabea Krämer

Eine Religion mit wenig Restriktion
„Weltweit gibt es schätzungsweise 36 Millionen AlevitInnen. Das ist bei Gott keine kleine Zahl. Wir sind also keine Sekte, die nur irgendwo herumkrebst.“ Mit überzeugter Stimme erklärt Günter Jamnigg – im Dialekt eines gebürtigen Steirers – warum er für den alevitischen Glauben eintritt. Er spricht wie jemand, der seine religiöse Einstellung schon oft verteidigen musste. Wortgewandt plädiert er für Freiheit, Gerechtigkeit und Toleranz. Seine Frau Fadime Jamnigg, eine geborene Türkin, verfolgt sichtlich stolz die Rede ihres Mannes.

Der Alevitische Kulturverein ist seit fünf Jahren in der Idlhofgasse 8 beheimatet. Foto: Tabea Krämer

Unterschiede zum Islam
„Überall in Europa sind die AlevitInnen als Religionsgemeinschaft anerkannt, nur in Österreich nicht“, sagt Jamnigg. Die nicht-islamischen AlevitInnen werden laut Günter Jamnigg völlig zu Unrecht mit den islamischen Aleviten und dem Islam in einen Topf geworfen. Auch der Name „Kulturverein“ ist irreführend, denn die AlevitInnen wollen kein Verein, sondern eine anerkannte Religionsgemeinschaft sein. Obwohl die Islamisch-Alevitische Glaubensgemeinschaft (ALEVI) bereits 2013 als Religionsgemeinschaft anerkannt wurde, wollen die AlevitInnen damit nichts zu tun haben. „Wir versuchen seit Jahren dieselbe Anerkennung zu bekommen. Wir wollen keine Zwangs-Islamisierung“, sagt Jamnigg. Der Ursprung der beiden Strömungen liegt weit zurück: Der Begriff „Alevi“ leitet sich von dem Namen des Heiligen Ali, dem Vetter und Schwiegersohn des Propheten Mohammed ab. Somit wurzelt das Alevitentum im Islam, teilweise hat es sich über die Jahrtausende aber stark differenziert. 

„Der Koran ist okay, aber nicht unser Buch“, erklärt Jamnigg. AlevitInnen respektieren die Thora, die Psalmen, den Koran und die Bibel als die vier heiligen Bücher. Jedoch kann ihrer Meinung nach kein Buch die Wahrheit ganz enthalten. Die Scharia lehnen AlevitInnen völlig ab. Auch Pflichtgebete kennen sie nicht, jeder betet dann und dort, wo er oder sie will. AlevitInnen müssen sich in der Türkei heimlich treffen, weil die Frauen kein Kopftuch tragen und sich Männer und Frauen in einem Raum gemeinsam treffen. Aufgrund ihrer liberalen und offenen Weltanschauung verurteilen orthodoxe Sunniten die Aleviten als Heiden. Fadime Jamnigg ist „sehr froh“, dass sie hier in Österreich ihren Glauben frei ausleben kann.

Religionspraxis – „Der Daily Alevit“
„Wir möchten klarstellen, dass wir die Weisheit nicht mit dem Löffel g´fressn haben, sondern, dass wir alle anderen Religionen anerkennen und respektieren“, sagt der Vortragende. Toleranz gegenüber allen Menschen, unabhängig von deren Herkunft, Hautfarbe, Kultur oder Religion sowie die Gleichstellung von Mann und Frau sind feste Bestandteile des alevitischen Glaubens. „AlevitInnen lehnen Gewalt völlig ab. Es wird sogar oft diskutiert, ob sich AlevitInnen überhaupt wehren sollten. Unsere Waffe kann nur das Wort sein“, sagt Günter Jamnigg. Nickende Köpfe und zustimmende Gesichter. Die BesucherInnen fühlen sich merklich immer wohler, je länger sie Günter Jamniggs Ausführungen zuhören.

Ein älterer Herr fragt, ob es denn auch so etwas wie die Zehn Gebote gäbe. „Hüte deine Hände, deine Zunge und deine Lenden!“, sagt Jamnigg. Eine junge Frau lacht und blickt sich verstohlen um – fast alle Gäste haben ein Grinsen auf dem Gesicht. Jamnigg macht deutlich, dass AlevitInnen nicht lügen, stehlen oder sexuell ausschweifend leben sollten. Ein junger Mann will wissen, wie AlevitInnen ihre Gottesdienste feiern. „Wir treffen uns ungefähr fünf Mal im Jahr zum sogenannten ‚Cem‘, das heißt Versammlung“, erklärt der Vortragende. Dort singt der Dede (Geistliche) zur Saz, dem heiligen Instrument der AlevitInnen. Weiterer Bestandteil des Cem ist der „Semah“, ein Gebetstanz, in dem jede Bewegung eine bestimmte Bedeutung hat. 

Günter Jamnigg erzählt mit ansteckender Begeisterung von den Versammlungen – eine ältere Dame will wissen, wann der nächste „Cem“ sein wird. Leider erst im kommenden Oktober lautet die enttäuschende Antwort.

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