Wenn man den Mordsg’schichten glauben kann, ist Graz die Hauptstadt grausamer Verbrechen. Der Stadtspaziergang im Rahmen der Criminale führte an Tatorte zwischen Griesgasse und Lendkai, zwischen Realität und Fiktion.
Es wirkt ungewohnt, die Tatort-Signation nicht an einem Sonntagabend auf der Couch, sondern an einem Mittwochnachmittag in Gries zu hören. Nichtsdestotrotz entstehen vor dem geistigen Auge sofort Bilder von blutverschmierten Messern, rauchenden Pistolen und ratlosen Ermittlern, während die Kultmelodie aus Handylautsprechern ertönt. Sigrid Rahm von GrazGuides zückt ihren Ausweis und hält ihn wie eine Polizeimarke vor die Gesichter der TeilnehmerInnen.
„Mein Name ist Sigrid Rahm. Ich bin Mitglied der SOKO Mord und werde Sie heute auf einer Blutspur durch Graz führen.“ Das Wetter tut sein Übriges. Schwere Tropfen prasseln auf das Glasdach vor dem Hotel Weitzer, dem Startpunkt von Mordsg’schichten, der kriminellen Stadtführung. Ungemütlicher und damit passender könnte die Stimmung für einen Rundgang nicht sein, bei dem sich alles um grausame Morde und ungeklärte Todesfälle dreht.
Der „mörderische“ Stadtspaziergang war eines von zahlreichen Side-Events der Criminale, dem größten deutschsprachigen Krimifestival, das in der ersten Maiwoche bereits zum zweiten Mal in Österreich gastierte. AutorInnen aus Österreich, Deutschland, der Schweiz und Luxemburg lasen an verschiedenen Locations in und um Graz aus ihren Werken.
Um sich Stoff für ihre nächsten Bücher zu holen, nahmen auch einige Autoren des Syndikats – so nennt sich der Zusammenschluss der Krimiliteraten, der hinter der Criminale steht – an der kriminellen Führung teil.
Griesgasse – Der Mythos Jack Unterweger
Während Sigrid Rahm den TeilnehmerInnen von Fehden in den umliegenden Lokalen und „Blutspuren, die sich bis zum Murufer ziehen“ erzählt, biegt sie mit der gesamten Gruppe in die Griesgasse ein. Sie hält vor einem kleinen Café, wartet, bis sich alle um sie versammelt haben und beginnt mit der ersten realen Krimigeschichte. Mit einer Handbewegung deutet Rahm auf die Fenster im ersten Stock. „Hier haben bis vor wenigen Jahrzehnten Prostituierte ihre Geschäfte betrieben.“ Sie kombiniert die Themen Prostitution und Mord miteinander und kommt auf die wohl aufsehenerregendste Mordserie in Österreich zu sprechen: den Fall Jack Unterweger.
Der als „Häfnliterat“ bekannte Unterweger wurde 1976 wegen Mordes an einer Frau verurteilt und kam ins Gefängnis. Unterweger begann während der Haft zu schreiben. Er verfasste Gedichte und Romane, für die er auch fernab der Gitterstäbe bejubelt wurde. 1990 wurde er vorzeitig aus der Haft entlassen, weil sich zahlreiche österreichische Kulturschaffende für ihn stark gemacht hatten. Im selben Jahr begann eine mysteriöse Mordserie, deren Blutspur auch bis nach Graz führte.
Unterweger konnten wenig später zwei Morde an Grazer Prostituierten nachgewiesen werden, die er in einem Waldstück nahe der Landeshauptstadt mit ihrer eigenen Unterwäsche erdrosselt hatte. Ihm wurden weitere Morde nachgewiesen und 1994 wurde Unterweger in Graz verurteilt. Wenige Stunden nach der Verurteilung beging Unterweger Suizid in Graz-Jakomini. „Dann war er seinem ‚geliebten’ Tod endlich nah“, meint Sigrid Rahm und verweist auf ein „Häfngedicht“ Unterwegers, in dem er dem Tod zu verstehen gibt: „Nimm mich, ich bin dein.“
Nicht nur auf Serienmörder, auch auf harmlose KrimileserInnen scheint der Tod eine gewisse Faszination auszuüben. Aber warum? „Es gibt bestimmte Archetypen, die den Menschen seit jeher faszinieren“, weiß Ursula Athenstaedt vom Institut für Psychologie an der Karl-Franzens-Universität Graz. „Dazu gehören Liebe, Geburt und eben auch der Tod. Es ist das Unbekannte, das den Menschen in seinen Bann zieht.“ Krimis sind für die Sozialpsychologin eine Art Schutzwerkzeug, das die reale Lust am Morden eindämmt.
„Während des Lesens setzen wir uns mit Situationen auseinander, in die wir nie kommen möchten. Die LeserInnen lernen aus den Gräueltaten anderer und versuchen, diese im echten Leben zu vermeiden.“
Menschen suchen bewusst nach brutalen Krimis, würden die grausamen Bilder aus Kriegsgebieten aber am liebsten ausblenden. Die Psychologin sieht darin allerdings keinen Widerspruch. „Das ist wie bei Märchen. Menschen können sehr genau zwischen Realität und Fiktion unterscheiden. Bei einem Buch können die LeserInnen selbst kontrollieren, wann sie aufhören wollen. Die Realität nimmt ihnen jedoch jegliche Kontrolle aus der Hand und sie sind nicht mehr Herr des Geschehens.“
Südtirolerplatz – Mord für zwischendurch
Sigrid Rahm lotst ihre Gruppe weiter in Richtung Südtirolerplatz. Sie hält unter der Tanzschule Eichler und nutzt diesen Ort als Gedankenbrücke zum Mordfall Heinz Kern. Der Grazer Tanzlehrer wurde 1972 durch ein vergiftetes Verhackertbrot getötet. Vom Täter fehlt bis heute jede Spur. „Ein typischer Cold Case“, meint die Fremdenführerin kryptisch und bringt die TeilnehmerInnen auf die andere Seite des Platzes, wo die Mariahilferstraße beginnt.
Die Gruppe hält vor der Messerfachwerkstätte Scala. Die blitzblanken Messer in der Auslage sind der Grund, warum Guide Sigrid Rahm in eine Aufzählung von Mordwaffen und Tatwerkzeugen verfällt. Sie erzählt von Totschlägern und Säbeln und erläutert den kurzen, den langen und den Standard-Fall – drei Möglichkeiten, Menschen zu erhängen.
„Falls das nichts wird, gibt’s noch immer das Taschenmesser. Für den kleinen Mord zwischendurch“, meint eine Krimiautorin aus Deutschland und deutet in die Auslage des Messergeschäfts. Das Gelächter ihrer KrimikollegInnen hallt durch die Mariahilferstraße.
Im Gegensatz zu ihren Geschichten wirken die anwesenden KrimiautorInnen erstaunlich locker und so gar nicht blutrünstig. „Wir sind alle friedliche und ausgeglichene Zeitgenossen“, meint die steirische Krimiautorin Claudia Rossbacher. Sie persönlich nutzt das Schreiben als Ventil, um sich abzureagieren. „Auch ich hatte schon Rache- und Mordgedanken, die ich dann in meinen Büchern verarbeitet habe“, sagt sie schmunzelnd. Zum Glück sind es nur fiktive Mörder, die ihre Morde in die Tat umsetzen. Sie treiben allesamt in der Steiermark ihr Unwesen.
Für Rossbacher war schnell klar, dass die Grüne Mark als perfekter Verbrechensschauplatz taugt. „Die Steiermark ist das vielfältigste Bundesland. Von den Alpen bis zur Weinstraße ist alles dabei – jede Region ist anders. Dementsprechend unterscheiden sich die Protagonisten in meinem Buch und deren Tode beziehungsweise Morde.“ Rossbacher lässt auch in Graz morden. Ihr neues Buch „SOKO Graz – Steiermark“, das sie anlässlich der Criminale veröffentlichte, bringt den fiktiven Tod in die steirische Landeshauptstadt.
Mariahilferplatz – Dem Tod so nah
Sigrid Rahm charakterisiert die Gegend rund um den Mariahilferplatz als düsteres, verruchtes Viertel. Auf dem Weg dorthin hält sie kurz an und verweist auf die angrenzende Kosakengasse. Dort soll vor einigen Jahrhunderten eine Dienstmagd versucht haben, ihr Kind in einem Abflussrohr zu ermorden. Als Nachbarn ein seltsames Wimmern hinter den Mauern der Kosakengasse vernahmen, dachten sie zuerst an übersinnliche Vorgänge. „Aber keine Angst, im letzten Moment konnte das Kind gerettet werden“, beruhigt Rahm die TeilnehmerInnen des Spaziergangs.
Wie bei einem gelungenen Krimi changiert sie in ihren Erzählungen zwischen wahren Begebenheiten und erfundenen Todesfällen österreichischer Autoren. Am Mariahilferplatz angekommen, deutet Rahm in Richtung Mur und verweist auf Wolf Haas’ Brenner-Krimi-Reihe, in der vom grantelnden Inspektor auch in Graz ermittelt wird. „Dort drüben ist er gestanden, der Brenner …“, erzählt sie mit Blick auf den Mursteg. Die Fremdenführerin wird allerdings unterbrochen, da sich ein Auto nähert, dem die Gruppe den Weg verstellt. „Bitte ausweichen! Nicht, dass es mir hier noch Tote gibt!“
Die Annenpost war auch mit der Kamera dabei und hat die Highlights von Mordsg’schichten zusammengefasst: