Das DramatikerInnenfestival hat mit einer ungewöhnlichen Lesung begonnen: Die Literarische Nahversorgung brachte AutorInnen und ihre Texte in 50 steirische Wohnzimmer. Aus diesem Grund war die Annenpost zu Besuch in einer Privatwohnung in Gries.
Es ist Dienstag, der 6. Juni, kurz vor 18 Uhr. In der Wohnung von Petra Kohlenprath in Gries ist es noch ruhig – es bleibt Zeit, sich umzusehen. Die Balkontür steht offen, von draußen drückt die regenschwere Luft ins Wohnzimmer. An den Wänden hängen Karten, Zeitungsausschnitte und Familienfotos. Petra Kohlenprath, die Gastgeberin einer der Lesungen der Literarischen Nahversorgung, erzählt von der Herkunft ihres Nachnamens und wie sich dessen Schreibweise über die vergangenen Jahrzehnte verändert hat. Die Familiengeschichte ist in der Wohnung unübersehbar. Auf einem Stammbaum sind Namen und Bilder der Vorfahren abgebildet. „Der hängt aber nur heute da“, sagt die Gastgeberin.
Privatraum wird öffentlich
Petra Kohlenprath stammt aus einer deutsch-slowenischen Familie und wuchs in Kärnten auf. Die Vergangenheit ihrer Familie arbeitete sie in dem Kunstprojekt Interferenzen in mehreren Episoden auf. Im Jahr 2014 spielte sie als Statistin mit slowenischen Wurzeln in Peter Handkes Stück Immer noch Sturm im Schauspielhaus mit. Deshalb wurde sie auch als Gastgeberin für die Lesung mit der slowenischen Autorin Simona Hamer vorgeschlagen. „Ich freue mich, dass so eine Kulturveranstaltung in meiner Wohnung stattfindet und diese quasi zu einem öffentlichen Raum wird“, sagt Kohlenprath.
Die 50 Wohnzimmerlesungen namens Literarische Nahversorgung bildeten den Auftakt des DramatikerInnenfestivals 2017. An diesem Abend kamen AutorInnen in 50 steirische Wohnzimmer, von Ramsau am Dachstein bis Bad Radkersburg, und lasen ihre Texte vor. Die Idee dahinter: Getreu dem diesjährigen Festival-Motto „Privatsache“, sollte die Veranstaltung im privaten Rahmen beginnen. Erst am nächsten Tag fand die offizielle Festivaleröffnung statt – unter anderem mit Fotos von den Wohnzimmerlesungen.
Es ist kurz vor halb sieben. Mittlerweile sind alle Gäste eingetroffen. Auch Simona Hamer, die an diesem Abend vorlesen wird. Schnell bilden sich zwei Gruppen: die eine spricht slowenisch, die andere deutsch. In der Wohnung herrscht ein Stimmen- und Sprachengewirr. Die Autorin nimmt in einem gemütlichen Lehnstuhl Platz. Sie liest die Text in slowenischer Sprache vor, ihre Schwester Petra übersetzt.
Von Blut und Postkarten
Die Balkontür ist immer noch offen, in die drückende Luft mischt sich Leichtigkeit. Eine persönliche Atmosphäre hat sich ausgebreitet – es wird gelacht. Zwischen Autorin und Publikum entsteht ein Dialog. Hamer liest den Text „Razeglednice ali strah je od znotraj votel od“ („Postkarten oder Angst ist innen hohl und außen leer“). Ist man der slowenischen Sprache nicht mächtig, sind „Rucksack“ und „Schokolade“ die einzigen Wörter, die man versteht. Es bleibt einem also nichts anderes übrig, als einfach zuzuhören. Ein paar Absätze lang einfach dem Klang einer fremden Sprache lauschen, ohne vom Inhalt etwas zu verstehen. „Übersetzung?“, fragt Hamer. „Ja, bitte“, lautet die Antwort des neugierigen Publikums und ihre Schwester Petra übersetzt.
Der Text, den Petra übersetzt, ist nicht linear aufgebaut. Er besteht aus Fragmenten, aus den Texten mehrerer Postkarten. Die Geschichte handelt von Tinka, einer jungen Frau, die durch die Welt reist und Postkarten von verschiedensten Orten schreibt. Einmal antwortet sie per Karte auf die Frage ihrer kleinen Tochter, was denn die Farbe von Blut sei. Da alle Menschen gleich seien, sei Blut immer rot. So rot, wie das Rennauto Lightning McQueen, schreibt Tinka. Im letzten Text, der an diesem Abend von Hamer vorgelesen wird, erzählt ein Baum, wie Kinder an seinen Stamm geschlagen werden. „Manchmal ist es besser, nicht alles zu verstehen“, sagt eine Besucherin nach Petras Zusammenfassung.
„Schreiben ist eine andere Art zu denken“
Simona Hamer ist Bühnenautorin, Dramaturgin, Performerin und Publizistin. Sie kommt aus Gornja Radgona, einem Ort an der slowenisch-österreichischen Grenze, nahe Bad Radkersburg. Schon im Gymnasium hatte sie mit dem Schreiben begonnen, später in Ljubljana Dramaturgie studiert. Mehrere ihrer Werke wurden in Slowenien ausgezeichnet. In der Öffentlichkeit stehe sie aber nicht gerne. „Ich bin auch nicht auf Facebook“, sagt Hamer. Damit, dass ihre Texte veröffentlicht werden, habe sie aber kein Problem: „Das Schreiben ist mein Kommunikationskanal.“ Außerdem sei das Schreiben für sie eine andere Art zu denken.
Das Format der Wohnzimmerlesung hat sie an diesem Abend zum ersten Mal mitgemacht, es sei aber eine hervorragende Idee. „Solche Lesungen sind immer interessant, weil ich keine Schauspielerin bin und es mir schwerfällt, diese Dialoge oder Charaktere zu spielen“, sagt Hamer. Außerdem sei es für sie nicht einfach, ihre Texte zu erklären: „Alles was ich sagen will, steht ja schon drinnen.“
Ein Blick auf die eigene Geschichte
Nach der Lesung stehen die Gäste beisammen. Der literarische Abend hat zum Nachdenken angeregt. Mit Wein, Weißbrot und Čevapčiči lassen sie ihn ausklingen. Gespräche über Sprachen, Vornamen und die eigenen Herkunftsgeschichten entstehen dabei: „Wie viele Vornamen hast du?“ wird gegenseitig gefragt. „Ich habe lange Zeit nicht gewusst, dass meine Großeltern nicht aus Österreich kamen“, erzählt eine Frau. Irgendwann ist man bei der österreichisch-slowenischen Geschichte und in der Monarchie angelangt. Es wird durcheinander geredet. Auf Slowenisch und Deutsch kommen Gesprächsthemen zutage, die ohne die Lesung unter der Oberfläche geblieben wären. Trotz aller Verschiedenheit der erzählten Geschichten, sind sich die Gäste in einem Punkt einig: Die Literarische Nahversorgung habe auf jeden Fall Wiederholungsbedarf.