Kaum ein Beruf wird so stigmatisiert wie die Prostitution. Doch wie sieht das Leben dieser Frauen im Alltag aus? Wir haben uns in den Laufhäusern des Annenviertels umgesehen.
Ich entschließe mich, mir persönlich einen Eindruck von den Laufhäusern im Annenviertel und den Frauen, die dort tätig sind, zu machen. Doch die Suche nach einer Gesprächspartnerin stellt sich schwieriger dar als zunächst vermutet. Das erste Laufhaus in der Zeillergasse wirkt unscheinbar. Die Apartments der Damen sind direkt vom Innenhof aus begehbar. Relativ wenig lässt darauf schließen, was hinter diesen Türen vor sich geht. Lediglich einige kleine Bilderrahmen, neben den Türen der Apartments zeigen laszive Aufnahmen der Sexarbeiterinnen in eindeutigen Posen.
Schon im Büro wird mir die größte Hürde meines Vorhabens aufgezeigt. Beim Betreten des kleinen Raumes werde ich vom Betreiber zunächst misstrauisch begutachtet. Sein sehr kleiner Weggefährte, ein aufgekratzter Chihuahua, bellt mich unaufhörlich an, während ich vorsichtig nachfrage, ob ich die Sexarbeiterinnen um ein Gespräch bitten darf. Sofort bekomme ich eine sehr ernüchternde Antwort: „Du kannst es gern probieren, aber du wirst keine finden, die Englisch oder Deutsch redet.” Als ich gerade wieder hinaus in den Innenhof gehen will, schwingt die Tür auf und eine stark geschminkte Frau drängt sich, nur in Dessous und einem dünnen Satin-Bademantel bekleidet, an mir vorbei. Zurück im Innenhof sehe ich gerade noch, wie ein Kunde in einem Apartment verschwindet. Ich klopfe bei einem Zimmer an, in dem, laut Aussage des Betreibers, eine Frau arbeitet, die ein wenig Deutsch spricht. Doch die Frau in diesem Apartment hat keine Zeit für ein Gespräch.
Wie funktioniert ein Laufhaus?
Das System in den Laufhäusern ist grundsätzlich überall gleich. Im Unterschied zu anderen Geschäftsmodellen geht es in Laufhäusern nicht darum, Atmosphäre zu schaffen oder, so wie in Bar-Bordellen, durch Getränke zusätzlichen Gewinn zu generieren. In den Laufhäusern geht es einzig und allein um das „Wesentliche” – um Sex. Vielleicht sind Bar-Bordelle gerade deshalb zunehmend am Verschwinden, denn mit diesem Geschäftsmodell sind zusätzliche Kosten für die Betreiber verbunden. Der Eintritt in Laufhäuser ist gratis, die Kunden können sich frei bewegen. Bilder an den Türen zeigen, welche Frauen dort anwesend sind, die Freier klopfen bei einem der Zimmer direkt an und verhandeln mit den Prostituierten über Wünsche und Preise. Die Sexarbeiterinnen müssen nicht zwangsläufig um die Freier buhlen, „anbandeln” nennt man das im Milieu, entscheiden selbst, wieviel sie für ihre Dienste verlangen. Allerdings gibt es in vielen Häusern einen Mindestpreis, damit sich die Frauen nicht gegenseitig unterbieten. Der Betreiber ist hier kein Zuhälter, sondern vermietet lediglich die Zimmer und entscheidet daher auch nicht, was die Arbeiterinnen mit wem tun müssen. Diese sind nur dazu verpflichtet, die wöchentliche Miete für ihr Apartment zu bezahlen.
Ganz normale Frauen
Fast die Hälfte der in etwa 30 genehmigten Betriebe in Graz befindet sich im Annenviertel. Die genaue Zahl der Betriebe lässt sich nur schwer festlegen, denn häufig sind Betriebe nur vorübergehend geschlossen, oder ihre Bordellbewilligung scheint noch immer auf, auch wenn sie nicht mehr existieren. Geschichtlich betrachtet lagen sowohl der Griesplatz als auch der Lendplatz auf der Nord-Süd-Hauptverbindung zwischen Wien und Triest beziehungsweise Laibach. Der dadurch entstandene Transitverkehr förderte, unter anderem, die Etablierung von Bordellen. Lange Zeit war besonders Gries für sein Rotlichtviertel bekannt. Diese Viertel gibt es aber in diesem Sinne nicht mehr, die Betriebe findet man nun vereinzelt über die ganze Stadt verteilt.
Michaela Engelmaier leitet das Projekt SXA des Frauenservices Graz am Lendplatz. Sie hat alle legalen, bewilligten Betriebe besucht, weiß genau um die Sorgen und Probleme der Sexarbeiterinnen bescheid. Gemeinsam mit einem mehrsprachigen Team steht sie den Frauen dort regelmäßig zur Seite, wenn sie Unterstützung benötigen oder einfach nur mit jemandem sprechen wollen, ohne sich verstellen zu müssen. Denn die größte Sorge der Frauen ist, dass jemand erfahren könnte, welcher Tätigkeit sie nachgehen. Doch die Berufswahl geheim zu halten, fällt in vielen Situationen schwer, beispielsweise auch im Alltag mit ihren Kindern. Viele Sexarbeiterinnen sind Mütter und haben das Gefühl, vor Lehrern oder anderen Eltern ein Lügenkonstrukt aufrechterhalten zu müssen, um ihre Kinder vor Vorurteilen und Ausgrenzung zu schützen. „Dieses Doppelleben ist sehr belastend. Das merken wir auch bei den Gesprächen mit den Frauen. Es sind oft Entlastungsgespräche”, erzählt Engelmaier. Eines der größten Anliegen des Projektes ist die Entstigmatisierung der Sexarbeit, dazu meint sie: „Das sind ganz normale Betriebe, da arbeiten ganz normale Frauen mit Problemen, die alle anderen Frauen auch haben.” In die illegale Prostitution hat der Verein wenig Einblick. Ob und wie viel Zwang dort herrscht, ist schwer zu definieren, denn es gibt kaum verwertbare Daten. Die Selbstbestimmtheit der Sexarbeiterinnen sei besonders wichtig, denn sie sollen selbst die Entscheidung treffen können, diesen Beruf auszuüben – oder eben auch nicht. Deshalb betont Engelmaier ausdrücklich, dass auch der Wunsch nach dem Ausstieg aus diesem Beruf zu unterstützen ist.
Sie kritisiert auch die gesetzliche Lage in Bezug auf Prostitution, denn dort gehe es mehr darum, die Gesellschaft vor den Gefahren dieser zu bewahren als um den Schutz der Sexarbeiterinnen selbst. Beispielsweise müssen die Frauen einmal wöchentlich zur Gesundheitsuntersuchung zum Amtsarzt. Die Einhaltung dieser Vorschrift wird auf einer Kontrollkarte, umgangssprachlich auch “Deckel” genannt, vermerkt und von den Behörden direkt in den Betrieben kontrolliert. Der Grundgedanke dieser Verordnung ist ein positiver, denn so soll die Ausbreitung von Geschlechtskrankheiten vermieden werden. Jedoch stellt es die Prostituierten vor das Problem, dass zunehmend viele Freier auf Verkehr ohne Kondom bestehen, da sie wissen, dass die Sexarbeiterinnen höchstwahrscheinlich gesund sind. Außerdem sieht sie die Wortwahl bei der Definition von Prostitution im steirischen Prostitutionsgesetz als problematisch, denn laut § 2 (1) ist unter Prostitution „die gewerbsmäßige Duldung sexueller Handlungen am eigenen Körper oder die gewerbsmäßige Vornahme sexueller Handlungen” zu verstehen. Der Begriff Duldung steht allerdings, ihrer Meinung nach, im Widerspruch zur vorhandenen Selbstbestimmtheit der Frau.
Auch Alice Schwarzer, Journalistin und Herausgeberin der Frauenzeitschrift Emma, steht Engelmaier in einigen Punkten kritisch gegenüber. Vor allem deren Aussage, Sexarbeiterinnen würden sich verkaufen, dementiert sie: „Das geht nicht, und das macht auch keiner. Eine Frau ist kein Fußball, den man kaufen kann.” Die Gleichsetzung des Erwerbs einer Dienstleistung mit dem einer Person ist in ihren Augen nicht gerechtfertigt. Aber Engelmaier betont auch ausdrücklich: „Nicht vergessen, das ist der legale, sichtbare, kontrollierte Bereich. Da kommt einmal im Monat die Polizei.”
Die Gegenseite
Es gibt auch Stimmen, die sich klar gegen die Normalisierung von Prostitution aussprechen. So haben sich beispielsweise führende Traumapsychologen Deutschlands zusammengeschlossen, um auf der Webseite trauma-and-prostitution.de die Problematik, die sie im Sexkauf sehen, zu erläutern. Prostitution bezeichnen sie nicht als Beruf wie jeden anderen, sondern als demütigendes Geschäft, in dem Frauen ausgebeutet werden. Ingeborg Kraus, welche die Webseite ins Leben gerufen hat, spricht in einem Vortrag vom völligen Fehlen der Selbstbestimmtheit von Prostituierten. Die Frauen seien „eingesperrt” in den Bordellen und der Betreiber entscheide, wer Eintritt erhält oder nicht. Auch Alice Schwarzer spricht sich gegen die Akzeptanz dieses Gewerbes aus. In einem Artikel aus dem Jahr 2016 schreibt sie: „Wir können nicht gegen Vergewaltigung sein und für Prostitution” und, dass die „ach so fortschrittlichen Menschen im 21. Jahrhundert” mitten unter ihnen „einen Sklavinnenmarkt dulden.”
Misstrauen und Kommunikationsprobleme
Das nächste Laufhaus, das ich in der Wienerstraße besuche, vermittelt schon eher die Atmosphäre, die ich ursprünglich erwartet hatte. Die Türen der verschiedenen Apartments sind über und über mit pornografischen Darstellungen beklebt und der Gang, an dem entlang sich die Zimmer reihen, ist von rötlichem Licht durchflutet. Auch hier ist mein erster Halt das dunkle Büro, welches lediglich durch den Computerbildschirm beleuchtet wird, von dem ein sehr hagerer Mann, Anfang 20, aufblickt, als ich eintrete. Wieder wird mir gestattet, mit den Frauen zu sprechen, aber erneut werde ich darauf hingewiesen, dass kaum eine der Sexarbeiterinnen Deutsch oder Englisch sprechen kann. Ich versuche trotzdem wieder an allen Türen, eine Interviewpartnerin zu finden. Doch auch hier begegnen mir die Frauen mit Misstrauen, auch weil sie manchmal nicht genau verstehen, was mein Anliegen ist.
Verwunderlich ist die Sprachbarriere nicht. Laut des letzten Arbeitsberichts des ExpertInnenkreises „Prostitution”, der vom Bundesministerium für Gesundheit und Frauen veröffentlicht wurde, sind etwa 85 bis 90 Prozent der registrierten Sexarbeiterinnen ausländischer Herkunft. Das sei in den Laufhäusern nicht anders, sagt Engelmaier, der Großteil der Prostituierten stamme aus Rumänien. Das Problem mit dem Doppelleben dieser Frauen spielt auch in Bezug auf die Sprachbarriere eine Rolle. Michaela Engelmaier erzählt von einer Frau, die gerne einen Deutschkurs besuchen würden, jedoch Angst davor hat, dass sie dort wohl auch über ihre Herkunft oder ihren Beruf sprechen müsste.
Wer suchet, der findet
Ein paar Tage später versuche ich es in einem weiteren Etablissement. Hier sprechen auch nur wenige Frauen Deutsch oder Englisch. Hinter der ersten Tür werde ich für eine Kundin gehalten und von meinem leicht bekleideten Gegenüber mit Preisvorschlägen konfrontiert. An einem Interview hat die Frau aber kein Interesse. Beim Blick in ein anderes Apartment erkenne ich eine Art Käfig, darin eine silberne Wasserschüssel. Nach einigen weiteren erfolglosen Versuchen finde ich endlich eine Sexarbeiterin, die bereit ist, mir etwas über sich zu erzählen. Ich schätze das Alter der ursprünglich aus Rumänien stammenden Frau auf Ende 20. Das Zimmer ist in warmes Licht getaucht, ein großes Bett steht rechts an der Wand, gegenüber eine Kommode, auf der einige Kosmetikartikel liegen, darüber hängt ein Spiegel.
Ich setze mich auf einen Stuhl, der in der Ecke steht, und bitte die Dame, mir frei zu erzählen, wie ihr Alltag aussieht. In brüchigem Deutsch erzählt sie mir, dass sie auch in ihrer Heimat schon in diesem Milieu tätig war, bevor sie auf Empfehlung einer Bekannten nach Österreich kam. Auf die Frage nach dem Grund für ihre Berufswahl antwortet sie: „Ich kann nichts anderes. Hab daheim nie was gelernt.” Die einzige Möglichkeit, meint sie, war es jedoch nicht: „Bevor ich putze, arbeite ich lieber hier.” Vorsichtig erkundige ich mich, ob sie auch schon unangenehme Situationen mit Kunden erlebt hat. Zu meiner Überraschung verneint sie dies: „Es ist so wie überall. An manchen Tagen ist es okay und an manchen magst du es eben nicht so.” Wie lange sie diesen Beruf noch ausüben möchte, weiß sie nicht. Noch sieht sie aber keinen Grund, über Alternativen nachzudenken. Kurz darauf beendet sie das Gespräch, denn sie erwartet einen Stammkunden.