© Adrian Engel

„Es gibt keine Weihnachtswunder“

Lesezeit: 7 Minuten

Jugendliche Flüchtlinge aus Afghanistan bangen in Österreich um ihre Zukunft. Amir* ist einer von ihnen. Ein Gespräch über neue Freiheiten, alltägliche Kränkungen und enttäuschte Hoffnungen.

Fünfundzwanzigtausendfünfhundertdreiundsechzig. Das ist die Zahl der aus Afghanistan geflüchteten Menschen, die 2015 einen Asylantrag in Österreich stellten. 5609 davon waren unbegleitete Minderjährige, also Jugendliche und Kinder, die ohne die Begleitung einer volljährigen Bezugsperson aus ihrer Heimat geflohen sind. Amir war einer von ihnen. Als er aus Afghanistan flüchtete und sich auf die gefährliche Reise nach Europa begab, war er 16 Jahre alt.

2083 der geflüchteten AfghanInnen durften sich zu den dreißig Prozent zählen, die einen positiven Asylbescheid erhielten. Amir war keiner von ihnen. Nachdem er acht Monate auf sein erstes Interview beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) gewartet hatte, wurde dieses verschoben, da sein Sachbearbeiter erkrankte. Weitere vier Monate später wurde der Termin nachgeholt, ungefähr ein Jahr danach, das war im Frühling 2017,  bekam Amir einen negativen Bescheid in erster Instanz.

Bis heute ist die Zahl der Asylanträge deutlich zurückgegangen. 2016 kamen 11.742 der gesamt knapp über 42.000 Asylanträge von afghanischen Flüchtlingen. In den ersten 10 Monaten von 2017 wurden  insgesamt nur noch 21.130 Asylanträge in Österreich gestellt, 1549 davon von unbegleiteten Minderjährigen Flüchtlingen, von denen 730 aus Afghanistan geflohen waren. Der aktuelle Anteil der positiven Asylbescheide für afghanische Flüchtlinge liegt bei 44%, das bedeutet, fast jeder zweite wird abgewiesen.

Wir sind in ein Auto gestiegen. Da gab es nicht mal Fenster.

„Es tut mir leid, dass ich so offen rede“, entschuldigt sich Amir zu Beginn des Gesprächs, „Aber ich muss es einfach offen sagen. Ich will nicht still sein.“ Wir haben uns in seiner Wohnung im Bezirk Gries getroffen, die er mit zwei anderen Männern teilt. Sein Zimmer ist sehr praktisch eingerichtet. Ein Bett, auf dem er Platz nimmt, ein Kleiderschrank, ein Regal, in dem nur wenige Bücher stehen, eines davon das österreichische Wörterbuch, ein Tisch und eine Couch. Kein Bild an der Wand, auf dem Bett nichts außer einem Kopfpolster. Ich habe kaum Platz genommen, da beginnt der mittlerweile 19-Jährige schon zu erzählen. Ich spüre, dass ich meine vorbereiteten Fragen nicht brauchen werde und lege sie vorerst zur Seite.

Amir ist seit etwa zweieinhalb Jahren in Graz, ganz genau weiß er es selbst nicht mehr. Auch an die Reise kann er sich im Detail nicht erinnern: „Wir sind in ein Auto gestiegen. Da gab es nicht mal Fenster.“ Zuerst war er einige Zeit in der Türkei, eine ganz andere Situation als in Österreich, wie er mir zu erklären versucht: „Dort sind auch fast nur Moslems. Wenn da ein Mensch etwas Schlimmes tun will, zeigen wir ihm unser Buch [Koran] und er wird es nicht tun. In Österreich gibt es eine ganz andere Kultur und es gibt fast nur Katholiken oder die Menschen haben gar keinen Glauben. Die Menschen hier kennen mein Buch gar nicht. Wie soll man das hier machen?“

Ankunft und die Hoffnung auf einen Neuanfang

Beim Überqueren der burgenländisch-ungarischen Grenze wurden Amir und die anderen Passagiere des Schlepperwagens verhaftet. Die Weiterreise wurde ihnen verwehrt. „Du bist jetzt in Europa. Du bist nicht mehr bedroht. Du darfst nicht mehr weiterreisen“, zitiert er einen der Polizisten. Nach 24 Stunden in polizeilichem Gewahrsam wurde er in ein Flüchtlingsheim in Baden gebracht, von dem aus er nach nur drei Tagen nach Steinhaus am Semmering geschickt wurde. Nicht ganz drei Wochen später erreichte er dann Graz, und damit seine vorerst letzte Station.

Niemand wollte mit mir reden.

Amir hat inzwischen wieder eine Lehrstelle als Koch, also in einem Mangelberuf, in Puntigam, nachdem er seine erste Lehrstelle in einem Lokal im Gries nach der Probezeit verloren hatte. Damals besuchte er neben der Arbeit auch noch die Abendschule, um die Matura zu machen. Amir wollte zeigen, dass er etwas tun will. Den ganzen Tag zu Hause rumzusitzen und zu warten, war für ihn keine Alternative, daher trat er jeden Tag zwischen 5 und 6 Uhr morgens den Dienst an, um dann nach einer etwa zweistündigen Pause am Nachmittag, die er nutze um zu Hause Kraft zu tanken, bis 22 Uhr die Schulbank zu drücken.  „Wir sind jung. Wir müssen etwas für unsere Zukunft tun“, sagt Amir.

An die Umstände in seiner ehemaligen Arbeitsstelle erinnert er sich nur ungern: „Niemand wollte mit mir reden.“ Als er eines Tages übermüdet und mit geröteten Augen zur Arbeit kommt, bezichtigt ihn sein Vorgesetzter, alkoholisiert zu sein. Er sei nur müde, beteuert Amir. Seine Entlassung begründet der Chef letzten Endes damit, dass der Beruf wohl die falsche Wahl für den 19-Jährigen sei. Das sehe man schon daran, dass er nie gut gelaunt zur Arbeit komme. In seiner neuen Lehrstelle gehe es Amir nun deutlich besser. Jetzt hat er auch Arbeitskollegen, mit denen er sich unterhalten kann.

Wenn ich die Arbeit nicht hätte, würde ich mich vielleicht umbringen.

Einziger Nachteil ist die Anfahrt zu seinem Arbeitsplatz. Da Amir einen negativen Asylbescheid bekommen hat, kann er, anders als andere Lehrlinge, kein Topticket beantragen. Oft habe er kein Geld für die öffentlichen Verkehrsmittel. Dann fährt er mit dem Fahrrad, egal bei welchem Wetter, erzählt er und deutet auf einen Haufen in seinem Zimmer – die Kleidung, mit der er am Vortag durchnässt zu Hause angekommen ist. Mit der Schule hat er inzwischen wieder aufgehört, da seine neuen Arbeitszeiten sich damit nicht mehr vereinbaren lassen. Trotzdem ist die Lehrstelle für den Jugendlichen ein wichtiger Ankerpunkt. „Wenn ich die Arbeit nicht hätte, würde ich mich vielleicht umbringen“, sagt der 19-Jährige mit gesenktem Blick und ich muss zum ersten Mal heftig schlucken. Vielen der anderen Jugendlichen, die er in seiner Zeit im Flüchtlingsheim kennengelernt hat, ginge es nicht besser als ihm: „Ich habe Menschen kennengelernt, die waren am Anfang motiviert und glücklich, endlich hier zu sein. Einige von ihnen sind jetzt im LSF.“

Ich bin kein schlechter Mensch. Ich will keinen Fehler machen.

Alltägliche Probleme und Kriminalität

Nicht nur am Arbeitsplatz kommt es für Amir zu unangenehmen Situationen. Erst vor ein paar Tagen sei ein Auto langsamer geworden, als er die Straße überquerte, die Insassen hätten ihm irritierende Blicke zugeworfen. „Warum? Weil ich wie ein Ausländer aussehe? Wie ein Terrorist?“, fragt er, ohne eine Antwort zu erwarten. Auch am Wochenende, wenn er sich mit Freunden trifft, beim Ausgehen, ist ihm seine Herkunft immer wieder eine Hürde. Er sei erschrocken gewesen, als er feststellen musste, dass gerade die Menschen in seinem Alter unangenehm auf ihn reagieren. Vor einem Grazer Lokal wird er mit „Schaut’s mal der Flüchtling. Was will der denn da?“ in Empfang genommen. In einen anderen Grazer Club wird ihm der Einlass verwehrt, man könne ihm ohne Reisepass keinen Zutritt gewähren. Die Ausgrenzung hat für Amir schlimme Folgen. „Ich hasse mich dafür, dass ich Afghane bin“, sagt der junge Mann und es klingt irgendwie kalt und resigniert. Die Vorurteile würden ihn wütend machen. Wenn beispielsweise einer von den Flüchtlingen erwischt wird, die im Park Drogen verkaufen, würden viele Menschen gleich glauben, sie seien alle kriminell. Auch er habe schon ein paar Mal die Kriminalität als möglichen Ausweg aus seiner Lage in Betracht gezogen, sich aber immer wieder dagegen entschieden: „Ich bin kein schlechter Mensch. Ich will keinen Fehler machen.“

Mit seiner Familie hat Amir übers Telefon Kontakt, doch auch diese Gespräche sind schmerzlich: „Die Wunden bleiben immer frisch.“ Amir hat diesen schweren Weg auf sich genommen, weil seine Familie sich für ihn ein glückliches Leben erhoffte, ihn vor dem Krieg beschützen wollte. Ihnen jedes Mal erneut mitteilen zu müssen, dass er hier alles andere als eine glückliche Existenz lebe und sie nicht unterstützen könne, streue zusätzlich Salz in die Wunde. „Es ist wie Krebs. Der Kummer wächst in meinem Körper. Manchmal muss man auch weinen.”

Die Ungewissheit

Auf seinen zweiten Interviewtermin wartet er immer noch. Die täglichen Blicke in den leeren Briefkasten seien niederschmetternd. Wenn er könnte, würde er gerne in seiner Heimat Afghanistan leben, doch der Krieg mache eine sichere Rückkehr unmöglich. Amir weiß immer noch nicht, ob er in Österreich bleiben darf. Sollte das Bundesverwaltungsgericht (BVwG), das für die Verhandlungen in zweiter Instanz zuständig ist, die Entscheidung des BFAs, Amir einen negativen Asylbescheid auszustellen, für richtig empfinden, würde Amir aufgefordert werden, Österreich innerhalb von 14 Tagen freiwillig zu verlassen. Ließe er diese Frist verstreichen, würde er abgeschoben werden. In der ersten Hälfte des Jahres ereilte dieses Schicksal 67 AfghanInnen. Seine letzte Möglichkeit wäre dann, mit Unterstützung eines Anwalts, Revision beim Verwaltungsgerichtshof oder Beschwerde beim Verfassungsgerichtshof zu erheben. Diese Verfahren sind sehr kompliziert und es gelten strenge Regeln.

Neue Freiheiten und der letzte Funken Hoffnung?

Es gibt vieles, das Amir am Leben in Österreich gefällt. Dass man hier eine Beziehung führen kann, ohne verheiratet zu sein, habe ihn überrascht. Er habe eine Frau kennengelernt, die zwei Kinder hatte, aber nicht verheiratet war. Das fand er gut, in Afghanistan sei das undenkbar. Außerdem gefalle es ihm, dass man hier anziehen kann, was einem gefällt, auch die österreichische Partykultur sei ein klarer Gegensatz zu der in seiner Heimat, wo man Alkohol ausschließlich in den eigenen vier Wänden trinken könne. Das Gefühl, dass diese Freiheiten allerdings nur für Österreicher, nicht aber für ihn, gelten, sei ein wiederkehrender Begleiter.

An ein Weihnachtswunder glaubt der junge Afghane nicht. „Es gibt keine Wunder. Wenn es Wunder gäbe, könnte ich in meiner Heimat leben und dort wäre kein Krieg. Wenn es Wunder gäbe, müsste ich nicht hier sitzen.“ Die letzte Hoffnung auf Veränderung möchte er nicht aufgeben, den eigentlichen Glauben daran hat er aber bereits verloren, sagt er zum Abschied. Er würde sich wünschen, dass er einmal die Möglichkeit bekomme, derart offen im Parlament zu reden und angehört zu werden – „Vielleicht würde das etwas ändern.“

*Name von der Redaktion geändert. Auf Grund des laufenden Asylverfahrens, haben wir unseren Gesprächspartner anonymisiert, um ihn zu schützen und die Entscheidung keinesfalls zu beeinflussen.

 

Eigentlich eine (Schla-)Wienerin. Interessiert sich für spannende Geschichten und Persönlichkeiten. Bisschen socially awkward, aber privat eh ur nett.

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