Balkanpop, Billard und Balgereien: Wer sich in die unscheinbaren Beisln und Cafés des Bezirks Lend wagt, kann einiges erleben. Ein Expeditionsbericht.
Man kann im Lend keine hundert Schritte tun, ohne an mindestens einem Lokal vorbeizukommen. Darunter finden sich nicht wenige Beisln, die dem ersten Eindruck nach etwas schummrig wirken. Von außen schwer einsehbar, bleibt es ganz der Fantasie der Vorbeigehenden überlassen, welche Szenen sich darin wohl abspielen mögen. Einladend wirken diese Orte selten, deutlich weniger attraktiv jedenfalls als die allerorts im Bezirk gedeihenden Hipsterlokale mit schickem Interieur und einer Liste von Craft-Bieren, länger als jeder Hipsterbart. Das Innenleben dieser anderen Lend-Beisln bleibt damit weitgehend mysteriös: Wie sieht es eigentlich aus da drinnen? Wer sind die Gäste, die sich hierher verirren? Womit vertreiben sie sich die Zeit? Was trinken sie und wieviel? Um diesen wichtigen Fragen nachzugehen, wagte sich ein kühnes Reportertrio der Annenpost des Nachts in drei besonders obskure Lokale hinein.
Café 44: Balgerei im 80er-Jahre-Flair
Die Expedition startet in einem sehr unscheinbaren Café in der Wiener Straße, dessen Hausnummer zugleich als Name des Lokals dient. Ein dünner weißer Vorhang erschwert Vorbeieilenden den Blick ins Innere. Beim Eintreten wird die Sicht nur geringfügig besser, derart dicht sind die Rauchschwaden, die uns Tränen in die Augen treiben. Sobald diese aber getrocknet sind, gewinnen wir den Eindruck, drei Jahrzehnte in der Zeit zurück gereist zu sein: Die Wände und der Tresen sind in Holzoptik vertäfelt, in einem Eck findet sich ein türkis verkachelter Kamin, auf dem zu Dekozwecken gut hundert leere Jägermeisterflaschen feinsäuberlich aufgereiht stehen.
Im hinteren Bereich des Lokals, das nur aus einem einzigen kleinen Raum besteht, liefert sich eine Gruppe von Männern Mitte 50 lautstark ein Duell am Dartautomaten. Eine rüstige Pensionistin mit Dauerwelle und bunten Oberarmtattoos schaut zu. Die Kellnerin ist über unser Auftauchen sichtlich überrascht, bedient uns aber freundlich. Die anderen Gäste – gut zehn Prozent aller Facebook-Fans des Cafés (gesamt: 66) scheinen heute hier zu sein – nehmen unsere Anwesenheit stillschweigend zur Kenntnis. Wir fühlen uns akzeptiert.
Während wir uns über ein an der Bar hängendes Schild amüsieren (“Trinke niemals Wasser – Fische vögeln darin!“), kommt es im hinteren Bereich des Cafés zu tumultartigen Szenen: Zwei Männer, die gerade noch friedlich bei einem Bier nebeneinander saßen, erheben sich plötzlich und nähern sich auf Schlagdistanz: „Was willst du von mir!?!“, schreit einer der beiden. „Ich bin nicht der Trottel für euch alle!!“, antwortet der zweite. Beinahe wortgleich wiederholt sich der spannungsgeladene Dialog. Bevor dieser verbale Schlagabtausch in die dritte Runde geht, verlässt die Kellnerin routiniert ihren Platz hinter dem Tresen und schiebt sich zwischen die Streitenden. Scheinbar macht sie dies nicht zum ersten Mal.
Der Zwist ist so schnell beigelegt wie er begonnen hat, und eine Runde Bier besiegelt den Frieden. Wir jedoch belassen es bei einem Getränk und ziehen weiter, ohne das Gefühl zu haben, die komplexen, wohl über Jahrzehnte gewachsenen Soziodynamiken des Café 44 hinreichend erfasst zu haben. Wie einstmals die Heiligen drei Könige auf der Reise zum Jesuskind nur dem Stern von Bethlehem zu folgen brauchten, weist uns eine Gösser-Leuchtreklame den Weg zum nächsten Lokal.
Café Boss: Billardpartie im Spiegelkabinett
Trotz des herrischen Namens versteckt sich dieses Café in einer unscheinbaren Seitengasse nahe dem Lendplatz. Kaum haben wir die Türe aufgestoßen, wähnen wir uns in einem bizarren Musikvideo aus den 70ern: Mitten im Raum schwebt eine riesige, bunte Farbblitze schleudernde Discokugel. Unzählige an der Wand hängende Spiegel verstärken die Lichteffekte zusätzlich. Benommen taumeln wir durch diese Farbenpracht und müssen feststellen, dass es keinen freien Tisch mehr gibt. Der immer lauter werdende Balkanpop zerstört zudem die Illusion, bei den Bee Gees und den Village People gelandet zu sein. Zwei der drei Gäste im Lokal sind ihrer Montur nach zwar Arbeiter, jedoch schlürfen sie nur entspannt ihr Bier und zeigen keine coolen Tanzmoves. Platz dazu gäbe es aber genug: Neben zwei Stehtischen und vier Barhockern am Tresen findet sich in diesem Lokal sonst nur ein Billardtisch. In einer etwas dunkleren Ecke versteckt sich noch ein Sportwetten-Terminal und von der Decke hängt ein Flachbildfernseher. Gerade läuft eine Musikshow, bei der es sich um die Balkanversion des Musikantenstadls zu handeln scheint.
Nachdem wir bei der rothaarigen Kellnerin mit osteuropäischem Akzent, der das Lokal wohl seinen Namen verdankt, unsere Bestellung aufgegeben haben, starten wir eine Partie Billard. Im Gegensatz zu den Preisen in einem nahegelegenen Szenelokal müssen wir hier nur einen läppischen Euro dafür berappen. Die beiden Arbeiter sind von unserem Auftauchen sichtlich unbeeindruckt. Der Herr zu unserer Rechten, der sich einen Tisch mit vier leeren Bierflaschen teilt, interessiert sich schon eher für uns. Der mangelnden Gesprächsbereitschaft seiner gläsernen Gesellen überdrüssig, nähert er sich mit breitem Grinsen: „Darf ich mitspielen? Ihr seid eh nur zu dritt!“ Froh darüber, nun Zweierteams bilden zu können, bejahen wir. „Aber ich sag´s gleich: Ich kann überhaupt nicht spielen!“, gesteht er uns und stellt sich als Jörgi vor. Entgegen dieser Aussage erweist er sich bald als ebenbürtiger Gegner. Sich den Namen von seinem Teampartner zu merken, fällt ihm hingegen schwer: “Herbert? Martin? Michael? Na geh, ist eh wurscht wie du heißt. Ich merk mir einfach dein Gesicht!”
Jede versenkte Kugel quittiert unser neuer Gefährte mit schallendem Gelächter, das wie ein hoch infektiöser Virus sofort auf uns übergreift. Vor lauter Heiterkeit wäre es uns beinahe entgangen, dass sich ein Rosenverkäufer zu unseren illustren Runde gesellen will. Allzu unbedacht nähert er sich dem gerade zielenden Jörg und hätte beinahe dessen Queue in die Eingeweide gerammt bekommen. In unseren Ohren dröhnte bereits das Martinshorn der herbei eilenden Ambulanz, doch der Rosenverkäufer gibt Entwarnung: „Alles klar, Brüder.“ Unsere Partie findet indessen ein unrühmliches Ende, da die schwarze Kugel im falschen Loch verschwindet.
Unsere Aufmerksamkeit wandert nun zum Balkanmusikantenstadl. Während vier leicht bekleidete Tänzerinnen eine anmutige Choreografie darbieten, lässt Jörg einige lustig gemeinte Kommentare von der Leine, die hier aus Gründen der Political Correctness nicht abgedruckt werden. Nachdem ihn einer der beiden Hackler vom Nebentisch – scheinbar ein Landsmann der Tänzerinnen – mit einem “Aber hallo!!” zurechtweist, entschuldigt sich der Übeltäter umgehend. Um nicht weiter in Ungnade zu fallen, verlässt er gemeinsam mit uns wenig später das Lokal. Jörg tritt den wohlverdienten Heimweg an, wir suchen nach dem nächsten Beisl. Und werden kaum 200 Meter entfernt in der Keplerstraße fündig.
Café Monzza: Weihnachtslieder und trübsinnige Kundschaft
In dieser Bar, die an innenarchitektonischer Schlichtheit kaum zu unterbieten ist, findet unsere Ausgelassenheit ein Ende. Schon beim Eintreten meinen wir, eine sehr gedrückte Stimmung wahrzunehmen. Die hängenden Köpfe der Handvoll anwesender Gäste erhärten diesen Eindruck. Nach einiger Zeit kommen wir mit einem Herren Mitte 50 ins Gespräch. Wie er heißt, will er nicht sagen. Auf die Frage, was er beruflich mache, meint er: „Sagen wir so: Ich habe viel Zeit.“ In Ermangelung eines Arbeitsplatzes verbringe er viele Abende in diesem Lokal, um nicht durchgängig in seiner kleinen Wohnung dahinsiechen zu müssen. Die aus dem Radio rieselnde Mischung aus Balkanpop und amerikanischen Weihnachtsliedern bildet einen absurden Kontrast zur dunkelgrauen Wolke aus Resignation, die im Raum zu schweben scheint. Neben einigen Werbebildern diverser Bierfabrikanten und den rot-gelb gefärbten Wänden bringt nur eine orange Lichterkette ein klein wenig Farbe in die Bar. Gemeinsam mit einer dicken Staubschicht umhüllt sie die Registrierkasse.
Ohne Rechnungszettel, aber mit reichlich Sinneseindrücken bepackt treten wir zu später Stunde voller Stolz den Heimweg an. All die Risiken und Mühen dieser tollkühnen Expedition haben sich bezahlt gemacht. Wir ließen uns von fadenscheinigen Vorhängen nicht verunsichern, kämpften uns durch beißenden Zigarettenrauch, trotzten den verführerischen Hüftschwüngen spärlich bekleideter Tänzerinnen und konnten so zwei wertvolle Forschungsergebnisse erzielen: Erstens: Solch eine Lokaltour eignet sich bestens, um eine Nacht lang aus seiner gesellschaftlichen Blase auszubrechen und mit Leuten in Kontakt zu kommen, denen man in den Trinkhallen des Univiertels wohl nur schwerlich begegnen würde. Zweitens: Der Spritzwein in diesen verruchten Beisln schmeckt um Längen besser als jener, den man in den schmucken Hipsterbars vorgesetzt bekommt. Und billiger ist er obendrein.