3,5 Prozent der Einwohner von Graz sind Kurden. Im Demokratischen Zentrum für KurdInnen können sie hier – fernab ihrer Herkunftsländer – Traditionen und Bräuche aufrechterhalten. Aber auch auf das Leiden ihrer Landsleute im Nahen Osten aufmerksam machen.
Es ist der 17. März 2018, ein Samstag. Der Himmel ist grau und seit Stunden hat es nicht mehr aufgehört zu regnen. Auch wenn das Wetter nicht zu einem Spaziergang einlädt, sind etwa 100 Menschen in einem langen Zug unterwegs und bahnen sich ihren Weg vom Griesplatz durch die Annenstraße hin zum Hauptplatz. Sie haben ein Ziel: Sie wollen auf die Ungerechtigkeiten und die Verletzungen von Menschenrechten in Syrien, im Gebiet um Afrin, aufmerksam machen. Menschen allen Alters sind vertreten – von Babies im Kinderwagen bis hin zu Pensionisten. Auf großen, farbenprächtigen Bannern in ihren Händen stehen Parolen wie „Stoppt den türkischen Terror in Afrin” und Sprechchöre wie „1,2,3 – lasst die Kurden frei” schallen durch die Straßen des Annenviertels.
Nur zwei Tage nach der Demonstration in Graz haben die türkischen Truppen Afrin, Kurdenhochburg in Syrien, eingenommen. Nach Ankündigung der USA, die Grenzschutztruppen mit Beteiligung der YPG “Einheiten zum Schutz des Volkes” ausbauen zu wollen, geht die Türkei militärisch im Rahmen der Operation “Olivenzweig” gegen die PYD “Partei der Demokratischen Union” vor, um so ein Erstarken der Kurden zu verhindern. Die PYD und deren bewaffneter Arm YPG waren an der von den USA geführten Anti-IS-Allianz beteiligt und konnten so die Kontrolle über die kurdischen Gebiete im Nordosten Syriens weiter ausbauen. Laut UNHCR sind seit Beginn der Kämpfe in dieser Region 137.000 Einwohner geflohen.
Demonstrationen als Wegbereiter der Demokratie
Auch in Graz haben viele der Flüchtlinge eine neue Heimat gefunden. „Vor dem Syrienkrieg waren es ca. 5000 bis 6000 Kurden, vorwiegend aus Nordkurdistan, aus den türkischen Bereichen. Seit Beginn des Bürgerkrieges leben jetzt ca. 7000 bis 8000 Kurden in Graz”, so Dipl. Ing. Emrah Alabay. Für das Gespräch treffen wir uns im Demokratischen Zentrum für KurdInnen Graz in der Idlhofgasse, in welchem er auch aktiv tätig ist. Er kommt selbst ursprünglich ebenfalls aus dem türkischen Gebiet, hat hier in Österreich Maschinenbau studiert und ist inzwischen in Graz zuhause. Er habe zwei Heimaten, sagt er, den kurdischen Teil der Türkei und Österreich. Wenn es erforderlich ist, planen und organisieren Alabay und das Zentrum auch Demonstrationen für die Rechte der Kurden.
Dass in Graz, 3000 Kilometer von Afrin entfernt, Menschen auf die Straßen gehen und gegen die Militäroffensive der Türkei demonstrieren, findet er absolut notwendig. „Alles, was auf der Welt passiert, betrifft uns auch indirekt und was im Nahen Osten passiert, betrifft Europa direkt”, so Alabay. Auch wenn sie während ihrer Protestmärsche angesichts von Verkehrsbehinderungen nicht immer auf vollstes Verständnis der Einwohner stoßen, verliefen diese bisher immer friedlich. Das kann auch Benno Kleinferchner vom Polizeikommando Graz bestätigen: „Zwei bis vier Polizisten begleiten die Protestzüge, abhängig von der Länge, aber wir haben noch nie ein Problem gehabt mit Gegendemonstrationen oder etwas in der Art.”
Für Alabay sind Demonstrationen zum Erhalt oder der Bildung einer Demokratie nicht wegzudenken. „Die Demokratie in Europa ist das Ergebnis von solchen Umzügen und Widerstandskämpfern. Ich finde es sehr schade, dass es vielen Menschen heute anscheinend vollkommen egal ist, was passiert, und sich kaum mehr einer engagiert.” Er hofft, dass sich das bald wieder ändert. Außerdem möchte er, dass sich auf höchster Ebene der EU die Politiker wieder vermehrt für die Kurden in den bombardierten Gebieten einsetzen. „Als die Kurden die Armeen bei dem Kampf gegen den IS unterstützt haben, waren sie ständig im Fernsehen. Jetzt brauchen genau dieselben Kämpfer Hilfe”, so Alabay.
Ein hundert Jahre altes Problem
Mehr als hundert Jahre ist die Kurdenproblematik aktuell. Ende des ersten Weltkrieges zerfiel das Osmanische Reich in verschiedene Staaten. Nachdem die Gründung eines eigenen kurdischen Staates 1923 am Erstarken der Türkei scheiterte, sind die Kurden heute in 5 Ländern beheimatet, wovon die meisten in der Türkei (ca. 13 Mio.), und im Iran ( ca. 5,7 Mio.) leben. Syrien bietet ca. 1 Millionen Kurden eine Heimat. Unterschiede zwischen den Kurden selbst finden sich in drei verschiedenen kurdischen Sprachen und auch in verschiedenen Religionszugehörigkeiten. Größtenteils sind sie Sunniten, Schiiten, Jesiden, Aleviten und assyrische Christen. Eine Lösung für die Kurdenproblematik gibt es bisher noch nicht. Gerade in der Türkei ist der Konflikt auf einem neuen Höhepunkt. 2009 wurden unter dem damaligen Ministerpräsident Erdoğan Friedensverhandlungen mit der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) aufgenommen, die jedoch 2015 – ebenfalls unter Erdoğan – aufgekündigt wurde. Seither ist der Konflikt in der Türkei erneut eskaliert. Laut der unabhängigen NGO Crisis Group, welche an Lösung und Verhütung von tödlichen Konflikten arbeitet, sind in den letzten zwei Jahren fast 3000 Menschen durch den Konflikt zwischen der PKK und der Türkei ums Leben gekommen. Opfer sind sowohl auf Seiten der PKK als auch auf Seiten der Staatssicherheit zu verzeichnen. Mehr als 400 Zivilisten sind durch Anschläge getötet worden.
Auch in Graz fühlt sich Alabay nicht hundertprozentig sicher. Ein Ereignis hat in den letzten Monaten die Mitglieder des Demokratischen Zentrum für KurdInnen besonders erschreckt. Um die Angriffe auf Afrin gemeinsam zu verfolgen, hatten sie sich eines Abends zahlreich vor dem Fernseher des Zentrums versammelt. „Gegen neun Uhr am Abend haben wir einen Knall gehört, sind herausgelaufen und haben eine zerschlagene Scheibe gesehen. Wir haben noch versucht, die vier oder fünf Personen zu verfolgen, die weggelaufen sind, doch keine Chance”, so Alabay. Auch wenn es in Graz nicht viele Türken gibt, geht er davon aus, dass der Angriff von diesen ausgeführt wurde. „Hier gibt es nicht viele Türken, doch sind sie trotzdem gut untereinander vernetzt. Besonders die AKP hat sich mit dem türkischen Geheimdienst in Europa stark organisiert”, glaubt er. Auch in Graz hätten sie bereits von geheimen Versammlungen gehört, um Leute zu rekrutieren, sagt Alabay. Bezüglich der zerschlagenen Scheibe ermittelt die Kriminalpolizei. Laut Aussage von Oberst Benno Kleinferchner von dem Stadtpolizeikommando Graz, wurden bisher keine Täter ausfindig gemacht. Auch über Hintergründe oder kulturelle Bedeutungen lässt sich noch nichts sagen. Auf die Frage, ob sie Kenntnisse über Tätigkeiten des türkischen Geheimdienstes hätten, konnte er keine Bestätigung geben. Auch die Nachfrage des Grazer Polizeikommandos beim Landesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung ergab keine Nachweise über Tätigkeiten der AKP oder des türkischen Geheimdienstes in Graz.
Raum für Feste und Traditionen
Das Demokratische Zentrum für KurdInnen Graz in Gries ist jedoch nicht nur Treffpunkt für die Organisation von Demonstrationen oder Krisengesprächen. Hier ist auch der Ort, um Traditionen aufrecht zu erhalten und gemeinsam etwas zu unternehmen. Neben der Sprache gehören auch verschiedene Feste zur kurdischen Tradition. Eine sehr wichtige Veranstaltung ist das Neujahrs- und Frühlingsfest Nouruz. Dieses wird traditionell zum Frühlingsanfang am 20./21. März begangen. Auch in Graz organisiert das Zentrum jedes Jahr dafür ein rauschendes Fest. Am 20. März wird unweit des Griesplatzes ein großes Feuer entzündet und man trifft sich in gemütlicher Runde davor. Am Wochenende darauf wird dann in der Arbeiterkammer eine fröhliche Party gefeiert. 1500 bis 2000 Gäste können zu diesem Anlass meistens begrüßt werden. Die Gästeschar ist bunt gemischt und nicht nur auf Mitglieder des Zentrums begrenzt. „An diesem Abend kommen natürlich hauptsächlich Kurden, aber auch zahlreiche Österreicher und Österreicherinnen sind geladen”, so Alabay.
Auch an jedem anderen Tag ist das Zentrum gut besucht. Beim Betreten der Begegnungsstätte für das Treffen mit Emrah Alabay stechen sofort die vielen goldenen Pokale ins Auge, welche die Jugendgruppen der Vereinigung gewonnen haben. Sie stehen im Regal in der Ecke des großen Saales mit den vielen Tischen, Stühlen und der gemütlichen Couch. Auch die Flagge der PKK und deren Parteiführer Abdullah Öcalan hängen an der Wand. Viele westliche Staaten haben die Partei als Terrororganisation bewertet. Der österreichische Verfassungsschutz bewertet die Partei und ihre Aktivitäten hierzulande als eher ungefährlich. Der Verband der Kurdischen Vereine Österreich sympathisiert daher öffentlich mit der PKK und in vielen Zentren oder Vereinshäusern in den Städten sind die Flaggen an den Wänden. Der Wiener Kurdologe Thomas Schmidinger weist in einem Beitrag des Wien.Orf.at ebenfalls daraufhin, dass das Bekennen zur Partei noch lange nicht Sympathien zum Terrorismus bedeutet oder jemanden zum Terroristen macht. Davon ist im Saal auch nichts zu spüren. Zwei ältere Herren sitzen am Tisch und spielen ein Brettspiel, auf dem Außengelände wird gerade der Grill angefeuert, während Kinder fröhlich im Hof spielen. Kurden aller Altersgruppen haben hier die Möglichkeit, sich zu treffen und ihre Kultur zu leben. Dafür gibt es einen kurdischen Tanzverein, Kinder-, Jugend,- und Frauenvereine und auch gemeinsame Ausflüge und Veranstaltungen werden regelmäßig organisiert. Verschiedene Sprachen fliegen durch die Räumlichkeiten. „Die Jugendlichen sprechen meist Deutsch untereinander, die Älteren halten sich, wenn sie sich hier treffen, meistens ans Kurdische”, sagt Alabay. Hier ist der Platz für kurdische Traditionen aber auch um seine zwei Heimaten leben zu können – die kurdische und die österreichische.