Geschichte ist unveränderbar – Straßennamen nicht

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Stolpersteine zum Gedenken an NS-Opfer und Straßen, die nach Kriegsverbrechern benannt sind, liegen in Graz oft nur wenige Meter auseinander. Seit Jahren wird im Gemeinderat über den Umgang mit diesen Straßennamen diskutiert. Wie geht es nun weiter? Eine Bestandsaufnahme anlässlich des Holocaust-Gedenktags am 27. Jänner.

Kernstock und Kloepfer, Jaritz und Jahn – auch 2020 sind umstrittene Personen, teils sogar Nationalsozialisten und Kriegstreiber immer noch namensgebend für Straßen in Graz. Bereits 2014 entbrannte im Grazer Gemeinderat eine Diskussion über die Umbenennung historisch belasteter Straßennamen. Auslöser war ein Umbenennungsantrag für die Conrad-von-Hötzendorf-Straße seitens der Grünen. Der Grund: Franz Conrad von Hötzendorf wird Kriegstreiberei im Ersten Weltkrieg vorgeworfen, laut Historikern sei er auch verantwortlich für die Menschenrechtsverbrechen im Internierungslager Thalerhof. Die Stadt Graz richtete daraufhin eine HistorikerInnenkommission ein, die fast vier Jahre lang alle Straßennamen in Graz auf die Geschichte ihrer Namensgeber untersuchte. Fazit: Von insgesamt 1630 Straßen und Plätzen tragen 82 die Namen von historischen bedenklichen Personen. 20 davon gelten sogar als höchst bedenklich – darunter auch die Kernstockgasse.

Im Februar 2019 einigten sich Bürgermeister Siegfried Nagl (ÖVP) und sein Regierungspartner Mario Eustacchio (FPÖ) schließlich auf ein Maßnahmenpaket, das den Umgang mit kritischen Straßennamen klären soll. Auf die Umbenennung von Straßen wird verzichtet, stattdessen sollen alle 707 personenbezogenen Straßennamen Erklärungstafeln erhalten – jeweils eine am Beginn und am Ende einer Straße. Zusätzlich sollen eine Website sowie eine interaktive Straßenkarte zur weiteren Information für die Bevölkerung eingerichtet werden. Doch die Umsetzung lässt auf sich warten.

Karte mit den belasteten Straßennamen im Annenviertel
Straßennamen mit problematischer Namensgebung im Annenviertel (rot= sehr problematisch; orange=problematisch) – Grafik: Sabrina Unterreiner (Quelle: Stadt Graz)

Belastete Straßennamen im Annenviertel

Auch das Annenviertel beherbergt einige Straßen, deren Namensgeber unter starker Kritik stehen. Die Kernstockgasse im Bezirk Gries ist beispielsweise nach dem deutschnationalen Priester und Dichter Ottokar Kernstock (1848-1928) benannt. Er gilt als Kriegspropagandist und „Verfechter des Deutschtums“. Zu seinen bekanntesten Werken zählt das „Hakenkreuzlied“. Neben zahlreichen gescheiterten Versuchen kam es 2014 zumindest zu einer kurzzeitigen, wenn auch inoffiziellen, Umbenennung: Die Kernstockgasse wurde über Nacht zur „Kurt-Cobain-Gasse“ – die Annenpost berichtete.

Zu den höchst bedenklichen Straßennamen in Graz zählt auch die Dr. Hans-Kloepfer-Straße im Süden von Eggenberg. Der in Eibiswald geborene Arzt und Schriftsteller Hans Kloepfer (1867-1944) ist unter anderem aufgrund seiner Mitgliedschaft bei mehreren deutschnationalen Vereinen umstritten. Weiters war er Mitglied der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) sowie der Reichsschrifttumskammer (RSK). Während des Ersten Weltkriegs veröffentlichte Kloepfer propagandistische Gedichte.

Graffiti "Kernstock war ein Nazi"
Der Ruf nach einer Umbenennung der Kernstockgasse ist kaum zu übersehen. – Foto: Sabrina Unterreiner

„Vertane Chance“

Daniela Grabe, Obfrau des Vereins für Gedenkkultur, sieht im Umgang mit den umstrittenen Straßennamen in den letzten Jahren schlichtweg eine „vertane Chance“. 2014 jährte sich der Beginn des 1. Weltkriegs zum 100. Mal – ein wichtiger Anlass, um die geschichtliche Aufarbeitung in Graz weiter voranzutreiben. „Die Entscheidung, ob man bei einer Umbenennung tätig werden will oder nicht, kann keine HistorikerInnenkommission der Politik abnehmen“, sagt Grabe, die 2013 das Stolperstein-Projekt nach Graz brachte und früher für die Grünen im Gemeinderat saß. Die Straßenumbenennungen seien regelrecht in die HistorikerInnenkommission „entsorgt“ worden, denn bei vielen Straßennamen liege die problematische Geschichte ohnehin auf der Hand. „Das wichtige Gedenkjahr 2014 ist verstrichen, ohne irgendetwas Nennenswertes gemacht zu haben.“

Der Installation von Erklärungstafeln am Anfang und Ende einer Straße steht sie kritisch gegenüber. „Es ist zwar besser als nichts, aber die Alltagserinnerung und die Dauerwürdigung ist deutlich stärker als jede Zusatztafel oder Internetinfo. Wenn nur Zusatztafeln kommen, sollten diese zumindest kritisch ausfallen dürfen“, so Grabe.

Die nächsten Schritte

Vor fast einem Jahr fiel die Entscheidung gegen eine Umbenennung von historisch belasteten Straßennamen und für die Anbringung von Hinweistafeln. Auf Anfrage der Annenpost teilte Elke Achberger, Leiterin des Stadtvermessungsamtes Graz, mit, dass derzeit an der Erstellung der Texte für die Hinweistafeln sowie der Kurzbiografien für digitale Inhalte gearbeitet werde. „Die Arbeiten sind gerade im Laufen und werden vom Ludwig-Boltzmann-Institut für Kriegsfolgenforschung in Zusammenarbeit mit der Karl-Franzens-Universität durchgeführt. Auch die […] HistorikerInnenkommission rund um Prof. Stefan Karner wird mitwirken“, so Achberger. Die Texte würden im Frühjahr 2021 fertig sein, danach soll die Einrichtung einer Internetapplikation erfolgen. Das sukzessive Aufstellen der Hinweistafeln werde in einem Zeitraum von ca. 10 Jahren erfolgen.

Informationen zum Gedenktag
Am 27. Jänner 1945 befreiten sowjetische Soldaten das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau. Anlässlich des 60. Jahrestags erklärten die Vereinten Nationen im Jahr 2005 den 27. Jänner zum Internationaler Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust.

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