Das Corona-Virus hat auch die Annenpost ordentlich durcheinander gewirbelt. Die Redakteure haben sich im Annenviertel und in ihren Heimatorten nach Vorzeichen des nahenden Ausnahmezustands umgeschaut. Ein Protokoll aus der Zeit kurz vor dem ganz großen Stillstand.
Untersagt
11. März, 07:26 Uhr, Sarah Kowatschek
FH JOANNEUM
Normalerweise sammeln sich um diese Uhrzeit bereits viele Studierende vor der FH. Heute ist die Straße wie ausgestorben. Aus der ankommenden Straßenbahn steigt – niemand. An den Eingängen der Fachhochschule hängen Warnungen: “Der Aufenthalt an der FH JOANNEUM ist bis auf weiteres untersagt.” Ein Radfahrer bahnt sich ungehindert seinen Weg durch die Alte Poststraße, ein junger Mann mit Rucksack schlendert vorbei. Ein weiterer überlegt, ob er das Gebäude trotzdem betreten soll, dreht dann aber um und geht.
Ein Husten
11. März, 13:14 Uhr, Sarah Emminger
ÖBB-Waggon von Wels nach Attnang
Der Waggon der ÖBB ist leer wie sonst nie. Doch die Geräusche sind die gleichen wie immer, man hört sie jetzt nur besser. Vorne lachen zwei Mädchen, hinter ihnen ist eine junge Frau in ihr Handy vertieft. Gegenüber sitzt ein älteres Ehepaar, sie spielen Karten. Zwei Sitze weiter liest ein Mann Zeitung und hustet dabei ununterbrochen. Die Mädchen tauschen vielsagende Blicke. Die Frau kramt nervös in ihrer Tasche, findet ihr Desinfektionsmittel und schmiert sich die Hände ein. Das Ehepaar flüstert: Der Huster war aber schon auffällig lang und trocken. Nicht einmal die Hand hat sich der Mann vorgehalten! Und, so vom Gesicht, ist der vielleicht aus China?
Verschnaufen
11. März, 14:01 Uhr, Viktoria Stallinger
FH JOANNEUM
Ganz in der Nähe heult die Sirene eines Einsatzfahrzeuges auf. Vor der FH in Eggenberg haben die Eisenzäune rund um die Baustelle für die neue Tramtrasse ihre Funktion verloren. Es ist hier niemand mehr, der unbefugt die Baustelle betreten könnte. Ein Bauarbeiter schleicht herum. Versperrt er mir den Zutritt oder verschnauft er nur?
Angewidert
11. März, 16:44 Uhr, Julia Schuster
Straßenbahnhaltestelle Esperantoplatz
Die Fußgängerampel wechselt auf Rot. Eine Frau, gehetzter Blick, steuert sie an. Sie fixiert den Ampelsensor, hält inne, schaut angewidert. Ohne Drücken kein grünes Licht. Sie überwindet sich, hebt den rechten Ellenbogen, drückt den Knopf.
Ohne „Bussi Bussi“
11. März, 17:00 Uhr, Hanna Gries
Lenz am Lend, Lendplatz
Der Mittwoch ist ungewöhnlich warm und viele Menschen zieht es nach draußen. Die Marktstände am Lendplatz haben noch immer geöffnet. Eine junge Frau geht zielstrebig auf ihre Freundin zu, die bereits vor dem Café “Lenz am Lend” einen Platz gefunden hat. „Äh, hallo Juli! Wie sollen wir uns begrüßen – ohne ‚Bussi Bussi‘, oder?” Beide lachen und einigen sich auf ein Touchieren der Ellbogen.
„Geschlossen wegen …“
12. März, 10:49 Uhr, Lena Wieser
Büro der Nachbarschaften, Kernstockgasse
Die Tür ist zu, das Licht ist aus. Im Büro der Nachbarschaften, wo man dreimal wöchentlich gratis zu Essen bekommt, bleiben die Tische bis auf weiteres leer. In bunten Farben steht an der Glastür: „Bis 1. April KEIN Essen, KEINE Deutschassistenz, wegen …“ Ein Pfeil zeigt auf ein Virus, das an die Scheibe gezeichnet wurde. Die meisten können das Wort „Corona“ ohnehin nicht mehr hören.
Und die Kinder?
12. März, 11:58 Uhr, Hannah Schultermandl
Hygieneabteilung des BIPA, Bad St. Leonhard im Lavanttal
Auf der Suche nach Desinfektionsmitteln schwirrt eine Dame mittleren Alters planlos durch die Gänge des Drogeriemarkts. Sie fragt eine Mitarbeiterin, wo sie das Desinfektionsmittel finden könne. Als Antwort erhält sie, dass dieses, ebenso wie Säuglingsnahrung Stufe 1, derzeit nicht lieferbar sei. Die Kundin ist bestürzt: „Wir können uns noch irgendwie selbst versorgen. Aber was sollen die Kleinsten unter uns machen?“
„Seid´s vuarsichtig!“
12. März, 11:58 Uhr, Lukas Lorber
Café Foyer, Annenstraße
Eine Hand voller Gäste sitzt im Lokal, an der Theke wutzelt sich der Chef seine Zigarette und bereitet sich auf den Gang nach draußen vor. Auf dem Gehsteig werden ihm Fußgänger, Autos und eine prallgefüllte Bim ins Auge fallen. Den zusammengepferchten Gästen in der Straßenbahn fällt hingegen ein großes Schild an der Häuserfront des Lokals auf. „Seid’s vuarsichtig owa scheissts eich net an“, steht darauf geschrieben. Ob das die Menschen in der Bim beruhigen wird?
Zugsperre
12. März, 12:55 Uhr, Verena Schinnerl
Graz Hauptbahnhof (Eingangshalle)
Ein älterer Herr mit Glatze, Brille und Rucksack betritt die ungewohnt leere Bahnhofshalle. Auf den digitalen Bildschirmen steht – abwechselnd in den Sprachen Deutsch, Englisch und Italienisch: „Der Zugverkehr von und nach Italien ist eingestellt.“ Der Mann überfliegt den Hinweis, wendet sich seinem Smartphone zu und schüttelt verwundert den Kopf über die sich überschlagenden Ereignisse.
Die Rettung
12. März, 13:00 Uhr, Vilja Schiretz
Südtirolerplatz
Das Kunsthaus ist auf unbestimmte Zeit geschlossen, doch im Garten des Cafés herrscht kurz nach Mittag Hochbetrieb, kein Tisch ist frei. Vor dem sorglosen Treiben läuft ein kleines Mädchen mit Schulrucksack auf eine Gruppe von Kindern zu. Seine Arme hat es um den Topf einer großblättrigen Grünpflanze geschlungen. „Ich hätte sie nicht einfach in der Klasse lassen können!“, ruft es sichtlich erleichtert, dass zumindest die Pflanze die nächsten Wochen unbeschadet überstehen wird.
Geisterbahn
12. März, 13:36 Uhr, Viktoria Petritsch
Haltestelle Südtiroler Platz
Eine Straßenbahn hält, die Türen öffnen sich. Mit weit aufgerissenen Mündern steht sie da, gespenstisch einladend. Ein alter Mann bleibt stehen, blickt müde auf. Er sieht die offenen Türen, die leeren Sitze, die Entlastung versprechen. Er überlegt, wartet – absichtlich zu lange. Die Münder schließen sich, die Sitze bleiben leer. Der Mann wendet sich ab, setzt seinen Weg fort. Wie sich die Geisterbahn entfernt, sieht er nicht mehr.
Lebenszeichen
12. März, 13:57 Uhr, Marie Miedl-Rissner
Vorplatz Hauptgebäude FH JOANNEUM
Ein Tischtennisball schlägt auf der Tischtennisplatte auf. Die Augen der jungen Männer fixieren den Ball konzentriert, während sie um die Tischplatte laufen. Ihr Lachen und das Geräusch des aufschlagenden Balles durchbrechen die Stille des menschenleeren Platzes.
Der See verschluckt den Virus
12. März, 15:40 Uhr, Petra Schwarz
Stubenbergsee
Ein warmer Frühlingstag: Sonnenstrahlen und Menschen, die um den See schlendern. „Bis hierher ist der Virus wohl noch nicht `kommen“ – „Ja, da hast` wahrscheinlich recht.“ Erst ein Gespräch, dann zwei und immer mehr, die ihn verbreiten. Er wird auf den schwingenden Schallwellen richtung See gespült und hoffentlich von ihm verschluckt.
Spaß
12. März, 18:50 Uhr, Magdalena Krainer
Hofer Filiale, Lendkai
Ein Kunde, der sich von der gedrückten Stimmung nicht beeinflussen lässt, beginnt während seines Einkaufs zu lachen. Er beobachtet zwei Studenten, die sich gegenseitig mit Dosen voller passierter Tomaten beladen. Klick! Er fotografiert sie. Auch sie beginnen zu lachen und meinen nur: “Was sollen wir denn machen, wenn wir nichts anderes kochen können außer Nudeln mit Tomatensauce?”
Doppelpack
13. März, 10:00 Uhr, Anna Papst
DM Filiale, Bruck an der Mur
Selten ist hier an einem Freitagvormittag so viel los wie heute. Diesmal hetzen viele Menschen durch das Geschäft, Klopapier ist längst aus. Ein Mann steht vor dem halbleeren Seifenregal: Zitronella-Seife von Hirsch im Doppelpack um nur 1,85 €. Er legt eine Packung in seine Einkaufstasche, dann seufzt er laut und legt zwei weitere Packungen dazu.
Es gibt Reis, Baby
13. März, 12:00 Uhr, Sidonie Sagmeister
Lidl Filiale, Alte Poststraße
Der alte Mann mit dem beigen Trenchcoat reißt die Augen ängstlich auf, als er den Supermarkt betritt. Die Gänge sind voller Menschen, die wie Ameisen emsig alles zusammensammeln, was sie tragen können. Seine Schritte werden schneller, als er die komplett ausgeräumte Fleischtheke sieht. Dann huscht ein Moment der Erleichterung über sein Gesicht, während er die letzte Packung Basmatireis zu den vier Stück Dosenravioli in seinen Einkaufswagen knallt und sich dicht hinter die anderen Ameisen an der Kasse drängt. Erleichtert summt er vor sich hin. “Ich hab eingekauft, ich hab eingekauft… es gibt Reis!”
Doch kein Spaß
13. März, 12:09 Uhr, Sabrina Unterreiner
Busbahnhof Gleisdorf
Der Regen prasselt auf die Überdachung des Gleisdorfer Busbahnhofs. Ein Bus Richtung Graz hält und eine Frau mittleren Alters steigt aus. Sie kramt und kramt in ihrer Tasche, bis sie ein kleines Fläschchen Desinfektionsmittel findet. Unter großen Mühen quetscht sie die letzten Milliliter der gelartigen Flüssigkeit in ihre Hände. Mit akribischer Sorgfalt arbeitet sie das Mittel in ihre Handflächen ein – minutenlang. „Mit Corona is ned zu spaßen!“, ruft sie zwei Männern zu, die irritiert zuschauen.
Dunkel
13. März, 13:55 Uhr, Jonas Rettenegger
Friedhof Bischofshofen
Surreal. So wirkt die Gegenwart, traumhaft, unglaublich und irgendwie aus der Bahn geraten. Leere Öffis, leere Straßen und leere Schulen. Doch zwischen den symmetrischen Reihen langsam verwitternder Grabsteine steht eine Gruppe Trauernder. So wie dort immer jemand stehen wird, unter der drohend über sie hinwegragenden Paul-Außerleitner-Schanze.
Der letzte Einkauf
14. März, 8:30 Uhr, Andrea Dettenweitz
SPAR Filiale, Turnau
Schnell das letzte Einkaufswagerl geschnappt und schon geht’s los: der vorerst letzte Einkauf im einzigen Lebensmittelgeschäft von Turnau. Auf der Liste stehen Nudeln, Reis, Bohnen und Klopapier. In den meisten Regalen herrscht gähnende Leere. Nur Bio-Dinkel-Nudeln gibt es in Mengen. Und Mandelmilch! Und veganen Aufstrich!
Mein Schatz
14.März, 16:35 Uhr, Jasmin Hebenstreit
Penny-Markt Fürstenfeld
Da! Ein Mann verlässt den Supermarkt mit einer Packung Toilettenpapier in der Hand. Nichts wie hin! Das Gas bei Grün durchgedrückt, auf den Parkplatz abgebogen und rein in den Supermarkt. Mein Schatz! Ich sichere die Beute im Auto und fühle mich wie Gollum in “Herr der Ringe”.
Viel Zeit
14. März, 19:42 Uhr, Nina Gyger
Cafe Pub Joy Jennersdorf
Hinter der Bar in der Mitte des Raumes poliert ein Kellner Geschirr. Mit leicht geneigtem Kopf bewegt sich seine Hand mechanisch übers Porzellan. Er wirkt abwesend, als hätte auch er dem Pub den Rücken gekehrt. Wie die Gäste, die hier sonst durstig die Barhocker besetzen.
Ein großer Bogen
15. März, 10:12 Uhr, Barbara Stipper
St. Stefan ob Stainz
Sonnenstrahlen fallen auf den sonst so belebten Wanderweg. Heute ist er leer. Bis auf einen Mann, der in Richtung Wald geht. Auf Höhe eines Hauses begegnet er einer Frau. Sie grüßen einander höflich und gehen erst aufeinander zu. Doch in dem Moment, in dem sie aneinander vorbeigehen, hätte ein Traktor zwischen ihnen Platz gehabt.
Das Schachbrett
15. März, 15:05 Uhr, Michaela Gsell
St. Andrä Kirche
Helle und dunkle Fliesen aneinandergereiht, wie ein Schachbrett. Meine Schritte hallen durch den leeren Raum, wechseln ohne System zwischen Schwarz und Weiß. Die Kirchenbänke, sonst sonntags so gut befüllt, sind leergefegt. Die Säulen drücken schwer. Das Gesicht der Kirchenbesucherin spiegelt sich auf dem Altar. Dem Spiegelbild wird es nun richtig bewusst: Es ist heute die einzige Figur auf diesem Spielfeld.
Sonntagsbier
15. März, 15:30 Uhr, Nico Lang
Hauptplatz, Schladming
Lautes Gelächter unterbricht, die gespenstische Stille, die über Schladming liegt. Eine Gruppe von Menschen steht auf dem sonst leeren Hauptplatz. Sie trinken Bier, erzählen Geschichten, lachen. Die Pandemie ist hier abgesagt.
Konzert
15. März, 16:30 Uhr, Manuel Deutschmann
Schiffsmühle Mureck
Der Eingang der alten Schiffsmühle ist gesperrt, niemand kassiert heute Eintritt, niemand lacht im Gasthaus nebenan. Nur das Rauschen der Blätter und das Plätschern der Mur füllt die Luft. Ein Freudenkonzert der Natur.
Wetten
15. März, 19:30 Uhr, Fabian Schwödiauer
Annenstraße
Die Straße ist autofrei, dennoch steht die Fußgängerampel auf Rot. Aus einem einzigen Lokal kommt Licht. Aber auch dort, im Wettbüro, spielt nur eine einsame Seele mit dem Glück. Die Ampel schaltet auf grün. Ob der Mann gewinnt?