Lehrstelle weg, kein eigener Laptop, Streit in der Familie: Die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Folgen der Corona-Krise verschärfen die Situation vieler junger Menschen. Jugendstreetwork Graz steht ihnen zur Seite – mit Maske auf der Straße, aber auch auf Social Media.
Von: Nina Gyger, Hanna Gries
2018 zog Jugendstreetwork Graz mit einem neuen Team der Träger SOS Kinderdorf, Wiki und Input ins Annenviertel ─ die Annenpost berichtete damals. Seither sind die MitarbeiterInnen zu Fuß auf den Straßen und in den Parks unterwegs, um Jugendlichen ihre Hilfe anzubieten. Pro Jahr arbeiten sie mit rund 500 jungen Menschen im Alter von 14 bis 21 Jahren zusammen. Während andere wegen Corona “social distancing” predigen, möchten die 8 StreetworkerInnen weiterhin Jugendliche in allen Lebenslagen begleiten, beraten und unterstützen. In den letzten Wochen bewiesen sie, dass sie das auch mit etwas Abstand schaffen. Leiter Roland Maurer-Aldrian erzählt, wie er und sein Team die Corona-Krise bisher meisterten und vor welchen Herausforderungen junge Erwachsene und Familien zukünftig stehen.
Es ist noch nicht lange her, dass die Ausgangssperre unseren Alltag limitierte. Das Team des Jugendstreetwork Graz schloss seine Anlaufstelle in der Annenstraße 68. Die MitarbeiterInnen konnten die Teenager vorerst nicht mehr an gewohnten Orten wie dem Hauptbahnhof, dem Stadtpark oder den Jugendzentren antreffen.
Digitales Streetwork
„Um mit den Jugendlichen in Kontakt zu bleiben, wechselten wir zuerst in den digitalen Raum”, erzählt Roland Maurer-Aldrian. Sie verwendeten WhatsApp, Facebook und Instagram. Die StreetworkerInnen gaben so Informationen über Corona und vorgeschriebene Schutzmaßnahmen weiter. Sie posteten aber auch lustige Fotos aus ihrem Homeoffice-Alltag. Schon vor der Krise setzte das Team Soziale Medien ein. „Wenn Instagram Teil der Lebenswelt Jugendlicher ist, müssen wir das auch nutzen“, sagt der Soziologe Maurer-Aldrian.
Projekt auf Youtube
Während der Corona-Maßnahmen benutzte das Team zusätzlich erstmals Youtube. Sie verlegten ihr Tonstudio-Projekt “each one, teach one” mit dem Jugendzentrum Eggenlend kurzerhand ins Netz. Seither produziert Streetworker Victor regelmäßig Videos, in denen er zeigt, wie man zuhause selbstständig Tonaufnahmen machen kann.
Der virtuelle Kontakt hat laut Maurer-Aldrian aber auch einen Nachteil: „In unserer Arbeit auf der Straße ist es wichtig, wahrzunehmen, ob die Jugendlichen gerade etwas brauchen. Wenn sie sich zum Beispiel wegdrehen, dann gehen wir auch nicht hin. Das ist im digitalen Raum schwieriger.“
On the road again…
Geschlossene Büroräume schränkten die JugendstreetworkerInnen nicht ein. Handy und Laptop gehörten schon Prä-Corona zur Grundausstattung und machten flexibel. Teamarbeit wird hier großgeschrieben, so verwandelten sich auch Konferenzen in digitale Meetings. „Mir war es wichtig, dass mein Team im Homeoffice auf sich aufpasst und Pausen einlegt. Selbst gut durch die Krise zu kommen, bedeutet gut weiterarbeiten zu können“, so Maurer-Aldrian.
Nach zwei Wochen reiner Online-Arbeit ergriffen er und seine KollegInnen die Initiative: Sie schlugen der Stadt Graz erfolgreich ein Konzept vor, wie sie trotz Corona im öffentlichen Raum arbeiten können. Das Team kürzte die Arbeitszeit auf der Straße von 6 auf 3 Stunden, sie bildeten fixe Zweier-Teams, um sich gegebenenfalls nicht gegenseitig anzustecken. Die StreetworkerInnen schützen sich seither mit Masken. Gemeinsam mit der Upcycling-Design-Werkstatt Heidenspass starteten sie ein Projekt, bei dem Jugendliche diese nähen. Bei ihrer Arbeit auf den Straßen geht es vor allem darum Beziehungen zu jungen Leuten auf den Straßen aufzubauen, das Gespräch zu suchen und Probleme zu lösen.
Gegenwärtige Probleme
Laut Maurer-Aldrian belasten Jugendliche die „Begleiterscheinungen“ von Corona stärker, als die Angst vor der Krankheit selbst. In kleinen Wohnungen sind Einzelzimmer oder ein eigener Laptop oft Luxus: Vielen Teenagern fällt es schwer, konzentriert zu lernen oder Schulaufgaben zu erledigen. Es mangelt an Rückzugsmöglichkeiten, Nerven liegen blank und es kommt vermehrt zu Konflikten und häuslicher Gewalt. Zusätzlich bekommen Kinder zuhause mit, wie ihre Eltern von der Kurzarbeit betroffen sind oder – im schlimmsten Fall – arbeitslos werden. Das belastet. „Wenn die Eltern nicht arbeiten gehen, ist einfach kein Geld da. Dann geht es nicht um den nächsten Urlaub, sondern um die tägliche Mahlzeit“, erzählt der Leiter der Einrichtung.
Zukunftsperspektive?
„Viele junge Menschen verloren ihre Lehrstelle und kämpfen um Zukunftsperspektiven. Die Angst, keinen neuen Arbeitsplatz zu finden, ist deutlich spürbar“, sagt Maurer-Aldrian. Die StreetworkerInnen haben ein offenes Ohr für die Sorgen der Jugendlichen. „Derzeit versuchen wir wieder, regelmäßigen Kontakt aufzubauen”, so der Soziologe. Beschäftigungsprojekte wie Heidenspass und Programme in Jugendzentren sollen helfen, einen geregelten Tagesablauf einzurichten.
Mittlerweile öffnete auch die Anlaufstelle in der Annenstraße wieder. Anfangs nutzten die StreetworkerInnen den Raum nur als Büro oder für die Beratung einzelner Personen. Seit gestern sind zwei MitarbeiterInnen am Mittwoch, Donnerstag und Freitag von 16.00 bis 18.00 Uhr wieder fix vor Ort. Sie koordinieren den Ablauf und achten auf die Hygienemaßnahmen. In einem begrenzten Bereich vor dem Stützpunkt können sich bis zu drei Jugendliche aufhalten. Außerhalb der Öffnungszeiten ist es möglich Nachrichten auf der großen Glasfront der Anlaufstelle zu hinterlassen.
Roland Maurer-Aldrian zweifelt nicht daran, dass in Zukunft die soziale Arbeit stark gefordert sein wird. „Ich würde mir von der Gesellschaft und der Politik wünschen, dass ein größerer Fokus auf die sozialen Thematiken gelegt wird. Jetzt müssen Menschen, denen es davor schon nicht gut ging, wieder mehr in den Mittelpunkt gerückt werden – damit jene nicht dauerhaft unter die Räder kommen.“