Seit dem Attentat von Wien im November letzten Jahres sind Deradikalisierungsprogramme stärker in den öffentlichen Diskurs gerückt. Kathrin Koller vom Grazer Neustart-Büro in der Griesgasse über die zunehmende Radikalisierung der Gesellschaft und das neue Projekt Kompass.
Das Attentat in Wien am 2. November des Vorjahres, bei dem vier Menschen getötet und mehr als 20 teils schwer verletzt wurden, hat auch einige Schwachstellen in Bezug auf den Umgang der Behörden mit besonderen Gefährdungslagen zum Vorschein gebracht. Etwa die mangelnde Kommunikation zwischen dem Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (BVT) und den Organisationen, die den Attentäter betreuten. Dieser befand sich vor dem Anschlag in einem Deradikalisierungsprogramm, das der Verein Neustart in Kooperation mit der Organisation DERAD durchführte. Die mangelhafte Kommunikation verzeichnet auch die von Ingeborg Zerbes geleitete Untersuchungskommission, die nach dem Anschlag von Justizministerium und Innenministerium ins Leben gerufen wurde. Der im Februar veröffentlichte Endbericht bezeichnete die Zusammenarbeit zwischen den Behörden und den Vereinen als „defizitär“.
Kathrin Koller, Abteilungsleiterin im Grazer Büro von Neustart, teilt die Meinung, dass eine Deradikalisierung ohne funktionierende Kommunikation nur schwer gelingen kann. „Der Informationsaustausch ist wesentlich und gehört verbessert. Vor allem zwischen dem Innen- und Justizministerium”, sagt Koller. Die Kommission des Endberichts schlägt außerdem eine bessere „finanzielle, rechtliche und organisatorische Grundlage” für Organisationen vor, die Deradikalisierungsarbeit leisten. Diese Grundlagen gehören auch laut Koller dringend gestärkt.
Grundprinzip Freiwilligkeit
Kathrin Koller ist seit 2012 bei Neustart und betreut dort radikalisierte Klient*innen. Neben ihrer Zuständigkeit in der Bewährungshilfe ist sie eine der Verantwortlichen im Kompass Graz Team. Ein Monat vor dem Attentat hat Neustart in Kooperation mit dem BVT das Deradikalisierungsprojekt Kompass vorgestellt. Was Kompass von den bisherigen Programmen unterscheidet, ist in erster Linie die Freiwilligkeit. „Das BVT weist uns unter Beobachtung stehende Personen zu, die sich an Neustart wenden können. Jedoch ist es insofern freiwillig, das die Klient*innen selbst entscheiden, ob sie teilnehmen wollen oder nicht”, sagt Koller. Ein weiterer Unterschied bestehe darin, dass eben das BVT und nicht, wie sonst, das Justizministerium Klient*innen überweist. „Wir hoffen, mit dem Projekt Ausstiegswillige aus extremistischen Szenen unterstützen zu können, die sich noch am Anfang ihrer Radikalisierung befinden und wo eine gezielte Betreuung die Einstellungsänderung leichter ermöglicht”, so Koller. Die andere Zielgruppe, die man mit Kompass erreichen will, sind bereits straffällige Personen, die nach einer Haftentlassung mehr Support benötigen als nur die Bewährungshilfe.
„Wir hoffen, mit dem Projekt Ausstiegswillige aus extremistischen Szenen unterstützen zu können.” – Kathrin Koller
Ein Projekt gegen jeglichen Extremismus
Das Ziel des Programms sei es, Extremist*innen wieder in die Gesellschaft einzugliedern, um somit dem „Terrorismus den Nährboden zu entziehen“, wie die Bundesministerin für Integration Susanne Raab (ÖVP) im Zuge der Präsentation des Projekts im Oktober des Vorjahres sagte. In enger Zusammenarbeit mit ausgebildeten Sozialarbeiter*innen sollen sich Ausstiegswillige kritisch mit ihren Ideologien und Taten auseinandersetzen und sich ein neues soziales Umfeld erarbeiten. „Die Sozialarbeiter*innen, die mit Radikalisierten arbeiten, haben ständig Fortbildungen. Beispielsweise zu den Themen Kultur, Religion, Risikomanagement”, so Koller. Das Programm ist für Klient*innen aus allen extremistischen Szenen konzipiert – also nicht nur für Dschihadisten, sondern auch für Staatsverweigerer oder Rechtsextreme. Neustart betreue, laut Koller, momentan nur religiös-radikalisierte Klienten.
Das Projekt soll zunächst 21 Monate laufen. Koller kann nicht allgemein sagen, ob eine Deradikalisierung in diesem Zeitraum auch wirklich vollständig gelingen könne. Häufig dauere der Prozess sehr lange und es seien kleine, alltägliche Geschehnisse, die Klient*innen Schritt für Schritt die Augen öffnen. Ihre Aufgabe sei es vor allem, die Samen zu säen, damit Ausstiegswillige ihre Einstellungen ändern. Das passiere während der individuellen Betreuung und vor allem auch durch die gemeinsame kritische Reflexion der Ideologien.
„Die Sozialarbeiter*innen, die mit Radikalisierten arbeiten, haben ständig Fortbildungen. Beispielsweise zu den Themen Kultur, Religion, Risikomanagement.” – Kathrin Koller.
Startschwierigkeiten
Aufgrund der Pandemie konnte das Programm allerdings noch nicht wie gewünscht anlaufen. Aktuell betreut Neustart Klienten in drei von vier Bundesländern. In der Steiermark selbst stehen die Mitarbeiter*innen aber bereits in den Startlöchern, sagt Koller und man hoffe auf „ein baldiges Beginnen”. Über die möglichen Kapazitäten kann Koller zurzeit noch nichts sagen.
Krisenzeiten, ein Nährboden für radikale Tendenzen
Die allgemeine Radikalisierung innerhalb der Bevölkerung nehme seit der Corona Pandemie jedenfalls zu, so Koller. Das Aufkommen von fanatischen Ideen, Fake News und Corona-Verschwörungstheorien hat Teile der Gesellschaft radikalisiert, jedoch meist in einem noch nicht straffälligen Ausmaß. Krisenzeiten seien eben, wie die Vergangenheit des Öfteren gezeigt habe, ein Nährboden für radikale Tendenzen. Viele Menschen fühlten sich in Wirtschaftskrisen oder eben Pandemien verunsichert oder gar in ihrer Existenz bedroht. Die Suche nach Antworten oder Hilfe ende dann oft bei Organisationen, die den Menschen mit teilweise wirren Theorien eine einfache Antwort verkaufen wollen. Mit Deradikalisierungsarbeit möchte man bei diesen Personen für Aufklärung sorgen und jeglichem Extremismus in der Gesellschaft entgegenwirken.
Titelbild: Elisabeth Michalek