Die Annenviertlerin Kerstin Gruber studiert Sexualpädagogik und kämpft mit ihrer Band Karacho mit Kirsche für die Liebe für alle. Ein Gespräch am Ende des Pride Months über Feminismus, Sexualität und die LGBTQ-Szene.
Kerstin Gruber liebt Namensverschandelungen. Ihren Spitznamen „Kirsche“ hat sie noch aus ihrer Schulzeit, verrät sie gegenüber der Annenpost. Gepflegt wird er bis heute. Die Sozialpädagogin wohnt seit über 20 Jahren im Lend, ist Teil des Vereins Stadtteilprojekt Annenviertel und Frontfrau der 80er-Jahre-Band Karacho mit Kirsche. Wenn es um das Thema Sexualität geht, nimmt sie kein Blatt vor den Mund.
Annenpost: Sie studieren seit Oktober 2020 Sexualpädagogik in Wien. Auf Ihrem Facebook-Account steht „Für mehr vulvareske Gespräche, Aufklärung, Frauengesundheit, body positivity und und und.“ Warum sollten Frauen mehr über „da unten“ reden?
Kerstin Gruber: Wir haben zwar eine total übersexualisierte Medienwelt, aber trotzdem herrscht in Bezug auf diese Themen eine große Sprachlosigkeit. Wir fliegen auf den Mond, erobern die Tiefsee, entschlüsseln das menschliche Erbgut und trotzdem weiß fast niemand, wie groß eigentlich eine Klitoris ist. Da gibt es noch ganz viel Aufholbedarf. Deswegen freue ich mich jedes Mal, wenn ich irgendwo aufgesprayte Vulven oder Muschis sehe. Ein Penis ist schnell irgendwo aufgesprayt. Es gehört einfach viel mehr „Pussypower“ in den öffentlichen Raum. Das ist total wichtig, weil Frauen, kulturgeschichtlich gesehen, gezwungen worden sind, ihre Sexualität zu verstecken.
Mit dem Hashtag #unhatewomen wird seit März 2020 auf verbale Gewalt gegen Frauen, unter anderem in Rapsongs, aufmerksam gemacht. Kommt das nicht ein bisschen spät?
Die Frage ist immer, ob sowas gerade Platz in der Gesellschaft hat. Die #metoo-Debatte hat wahnsinnig viel losgetreten und öffentlich gemacht. Das finde ich total wichtig. Deswegen finde ich Initiativen wie Catcalls of Graz, die Probleme zum öffentlichen Diskurs stellen, genial. Es geht einfach darum, zu sagen: „So nicht!“ Man darf bei solchen Debatten aber nicht vergessen, dass es nicht nur um verbale Gewalt gegen Frauen geht. Ganz oft werden Leute aus der LGBTQI-Szene oder sexuelle Gewalt gegen Männer übersehen. Deswegen ist es wichtig, dass wir auch Männer als Feministen sehen und erkennen, dass wir sie als solche brauchen.
In Österreich wurden dieses Jahr schon elf Frauen getötet. Damit ist Österreich das einzige EU-Land, in dem es 2021 mehr Morde an Frauen als an Männern gibt. Einer dieser Morde fand im Bezirk Gries statt. Aus dessen Anlass gab es im Annenviertel eine Demonstration gegen Femizide. Waren Sie dabei?
Ich war nicht dabei, aber ich unterstütze alles, was F*Streik aufzieht. Dass sie sich in die Öffentlichkeit begeben und diese Themen so laut und so bunt darstellen, finde ich sehr unterstützenswert. Frauenmorde sind immer ein bisschen bagatellisiert, teilweise sogar verharmlost worden. Es heißt immer: „Ja, ein Beziehungsdrama.“ Das ist nicht nur ein Beziehungsdrama, das ist Mord. Femizid bedeutet, dass eine Frau getötet worden ist, weil sie eine Frau ist. Das ist eine Katastrophe und da ist wirklich jede eine zu viel!
„Karacho mit Kirsche kämpft mit den spritzigsten Nummern aus den 80ern gegen das Unrecht und für die Freiheit der Liebe für alle“, steht auf der Website Ihrer Band. Wie?
Wir finden, dass jede*r die Liebe von so ausleben können sollte, wie er*sie das möchte. Wenn wir in diesen elementaren Grundbedürfnissen irgendwie zurechtgestutzt werden, macht das einfach unglücklich. Und bitte: Es soll niemand unglücklich sein! Wir leben die Liebe für alle, indem wir diese Songs so spielen, dass einfach jede*r dazu eingeladen ist, jeglichen Weltschmerz, Liebeskummer und auch alle guten Gefühle auszuleben. Diversität und Vielfalt ist für uns ein ganz wichtiges Credo. Wir sind für die absolute Bandbreite, die das menschliche Sein zu bieten hat.
Was ist Ihr Lieblingssong aus den 80ern und warum?
„Like a Prayer“ von Madonna. Madonna hat mir schon als Mädchen so gefallen. Sie hat sich einfach nicht in eine Schablone pressen lassen und ihr Frausein und ihre Sexualität offen, natürlich auch provokant, zur Schau gestellt. Like a Prayer ist melodramatisch, emotional und Gänsehaut pur. Der Song hat einfach voll Sex!
Am 11. Juni legte Orbáns Partei eine Gesetzesnovelle vor, die Bücher, Filme und Werbung für unter 18-Jährige verbietet, die Homosexuelle oder Transgender normalisieren. Auch LGBT-Aufklärungsprogramme an Schulen sollen verboten werden. Welchen Auftrag muss heutzutage sexuelle Aufklärung in Bildungseinrichtungen haben?
Kinder müssen einfach lernen, dass es nicht nur unser binäres Geschlechtersystem und gewisse Geschlechterrollen gibt. Es ist absolut wichtig, dass sie erfahren, welche Vielfalt und Bandbreite es gibt. Staaten, die sich noch immer an diesen Hetero-Normen orientieren richten Unglaubliches an. Vor allem die, in denen die römisch-katholische Kirche sehr stark ist. Ungarn befindet sich leider da wirklich auf einer Rückwärtsschiene. Und zwar nur rückwärts. Das heißt ja auch, dass nicht-heterosexuelle Menschen diskriminiert, kriminalisiert und eventuell auch noch pathologisiert werden. Das ist alles politisch und genau das ist Sexualität generell. Es ist immer vom politischen Boden abhängig, wie wir leben können. Aber nur weil Dinge verboten werden, heißt es nicht, dass sie nicht mehr existieren. Man macht vielen Menschen das Leben einfach nur viel schwerer.
Zum 50. Jahrestag der Entkriminalisierung von Homosexualität in Österreich hat sich Justizministerin Alma Zadic, stellvertretend für die Justiz, für die strafrechtliche Verfolgung von homosexuellen Menschen in der Vergangenheit entschuldigt. Was muss in Zukunft noch auf rechtlicher Ebene für Homosexuelle passieren?
Das ist ein total wichtiges Zeichen, das da gesetzt worden ist. Es war natürlich schon längst notwendig. Für die Zukunft gehört noch mehr Geld für Beratungseinrichtungen und therapeutische Zwecke zur Verfügung gestellt. Leute, die sich vielleicht umoperieren lassen oder geoutet haben, machen einen wahnsinnig anstrengenden psychischen Prozess durch. Entlastung würden sie zum Beispiel durch leistbare oder gratis zugängliche Therapien erfahren. Momentan ist eine Sexualtherapie noch ein teures Privatvergnügen.
„Solange ein Pärchen auf der Straße geht, das Händchen halten will und die Entscheidung nicht darauf liegt, ob es Bock auf Händchen halten hat, sondern darauf liegen muss, ob es Bock auf Blicke hat, solange wird es uns noch brauchen“, sagt Joe Niedermayer von den RosaLila PantherInnen zur gesellschaftlichen Gleichberechtigung von Queer-Personen. Wie sieht für Sie die ideale Gesellschaft aus?
Durch den ganzen Kapitalismus glaubt jede*r immer, von irgendwas zu wenig zu haben. Das betrifft leider auch diesen Freiheitsgedanken. Wenn man sieht, dass jemand anderer was macht, mit dem man selber nicht aufgewachsen ist, glaubt man, dass man dadurch selbst von irgendetwas zu wenig hat. Oder man fühlt sich dadurch irgendwie eingeschränkt. In einer idealen Gesellschaft lassen alle die anderen einfach so sein, wie sie sind. Und zwar in seiner*ihrer sexuellen Orientierung und in seiner*ihrer Geschlechtszuordnung.
Titelbild: Kerstin Marija Gruber