„Früher ist man hier flaniert“

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Helmut Kleinschuster (81) und seine Frau Ella leben seit 1960 in der Straucher- und Hanuschgasse, im Herzen des Annenviertels. Beide sind der Meinung, dass es mit diesem Stadtteil seit Ende der 70er sukzessive bergab geht. Als Grund nennen sie den Wandel der Bevölkerungs- und Infrastruktur.

Ehepaar Helmut und Ella Kleinschuster; Foto: Julia Slamanig

Ein Lift führt in den neunten Stock des Nachkriegswohnbaus, wo das Ehepaar Kleinschuster seit mehreren Jahrzehnten lebt. In ihrem Wohnzimmer stehen an einem runden Tisch mit bestickter Tischdecke geblümte Tassen und eine Zuckerdose bereit. Die Wände sind mit Fotos tapeziert, auf denen Babys und junge Ehepaare abgebildet sind, Kinder und Enkel der Kleinschusters. Helmut Kleinschuster nimmt am Tisch Platz und erzählt bei Filterkaffee vom Annenviertel.

Als seine Frau eine knappe Stunde später vom Einkauf zurückkehrt, erklärt sie sich zögernd bereit, auch von ihren Erfahrungen zu sprechen. Frau Kleinschuster erzählt von verschleierten Frauen in wallenden Kleidern. „Ich hab nichts gegen Migranten“, sagt sie, „aber wenn sie gehäuft auftreten, sodass wir schon das Gefühl haben, in der Minderheit zu sein, wird es unangenehm.“ Die Kleinschusters erzählen vom Unwohlsein aufgrund der vielen Menschen mit Migrationshintergrund, schlechte Erfahrungen haben die beiden persönlich aber noch keine gemacht.

Ein Interview über Bomben, die ihr Ziel verfehlen, Kebapläden statt Juweliere und Migranten, die sich abschließen.

 

1960 sind Sie in die Hanuschgasse parallel zur Volksgartenstraße gezogen. Wie haben Sie das Annenviertel damals in Erinnerung?

Helmut Kleinschuster: Mir hat das Viertel sehr gut gefallen. Ein paar Jahre nach der Hochzeit bin ich mit meiner Frau hierher gezogen. In diesem Gebiet war die Wohnqualität sehr gut, Wohnen war leistbar. Es hat hier alles gegeben, was man gebraucht hat: Geschäfte, Ärzte, Schulen. Und der Volksgarten ist auch gleich nebenan.

Erinnern Sie sich auch noch an die unmittelbare Nachkriegszeit im Viertel?

Helmut Kleinschuster: Es war vom Krieg stark mitgenommen. Die Bahn wurde stark bombardiert, da ist viel daneben gegangen. Bei einem Bombenabwurf sind dreihundert Meter Abweichung ja keine Seltenheit. Auch unser Haus entstand nach dem Krieg an Stelle eines zerbombten Gebäudes. Alle diese Häuser im „Emmentaler-Stil“ – glatte Fassaden und Fenster – sind Nachkriegsbauten.

Inwiefern hat sich das Annenviertel im Laufe des letzten halben Jahrhunderts verändert?

Helmut Kleinschuster: Früher war die Annenstraße eine Geschäftsstraße. Es gab einen Autosalon, Möbel-, Textil-, Lebensmittelgeschäfte, Juweliere, praktisch alle Branchen. Heute findet man hier kein Traditionsunternehmen mehr. Dafür haben wir jetzt Chinesengeschäfte, türkische Läden, Imbissstuben, Kebapläden. Die Menschen laufen heute nur durch die Annenstraße, weil sie am Weg liegt. Früher ist man hier flaniert, es gab etwas zu sehen.

Was waren Ihrer Meinung nach die Gründe für diese Veränderungen?

Helmut Kleinschuster: Die Misere – es ist ja eine Misere, was wir jetzt im Annenviertel haben – hat damit angefangen, dass die Mieten für Geschäftslokale horrend gestiegen sind. Das war in den 70er- und 80er-Jahren. Natürlich haben dann viele zugesperrt, Nachfolger hat es aufgrund der Kostenlage fast keine gegeben. Und die Bevölkerungsstruktur hat sich verändert. Das Viertel war von der Wohnqualität – wenn ich es klassifiziere – unterer Mittelstand – es war und ist ein Arbeiterviertel. 1991 nach dem Jugoslawienkrieg sind dann viele Flüchtlinge aufgenommen worden, die sich im Lend und Gries niedergelassen haben. Diese Migranten hatten nicht dieselben finanziellen Mittel, wie die ursprüngliche Bevölkerung. Aus diesem Grund ist der Konsum noch stärker zurückgegangen.

Wie steht das Annenviertel heute im Vergleich zu anderen Stadtteilen in Graz da?

Helmut Kleinschuster: Gegenüber den anderen Stadtteilen schlecht. Die Leute sprechen oft von den Verbrechen im Volksgarten, obwohl eigentlich nicht mehr passiert, als im Stadtpark oder am Schlossberg auch. Aber das Viertel hat einfach einen negativen Ruf.

Sehen Sie die vielen Kulturen im Annenviertel als Bereicherung?

Helmut Kleinschuster: Es gibt viele Migranten verschiedener Kulturen, aber die schließen sich ab. Sie bemühen sich im Grunde nicht, sich zu integrieren. Oft sehe ich ein Fest im Volksgarten, wo Migranten feiern. Das Fest ist aber abgestimmt auf die eigenen Leute. Sie bemühen sich gar nicht, dass jemand anders  hinkommt. Es gibt keine Plakate, keine Vorankündigungen, sie reden nur untereinander und vom Fest kriegt man nur was mit, wenn man vorbeigeht. Dadurch haben wir nichts von den Kulturen.

Aber es gibt doch auch viele Menschen mit Migrationshintergrund, die sich öffnen.

Helmut Kleinschuster: Die Geschäfte seh ich schon als Bereicherung, die öffnen sich ja und sind bemüht um Kunden. Aber ich geh dort nur hin, wenn ich was Bestimmtes brauche oder im Sommer, wenn es frisches Obst gibt. Einmal hat mir ein mexikanisches Ehepaar erzählt, dass es gerne Tortillas machen will, aber das spezielle Maismehl dazu nirgendwo bekommt. Ich hab ihr dann Farmah’s Indien Supermarket genannt, der hat sowas. Das Ehepaar ist dann in das Geschäft gegangen und hat sich dort das Mehl besorgt. Aber man geht eben nur hin, wenn man was Bestimmtes braucht.

Haben Sie selbst jemals schlechte Erfahrungen mit Menschen mit Migrationshintergrund gemacht?

Helmut Kleinschuster: Wenn ich in die Parks gehe, zum Beispiel in den Volksgarten an einem Samstag oder Sonntag, hört man fast kein deutsches Wort. Gefährdet fühle ich mich von den Migranten nicht, aber irgendwie ein bisschen ungut. Ich hab in dem Sinne persönlich aber noch keine schlechten Erfahrungen gemacht.

Wie schätzen Sie die Zukunft des Annenviertels ein?           

Helmut Kleinschuster: Ich hoffe, dass durch die Umgestaltung der Annenstraße ein bisschen mehr Leben hineinkommt. Aber überzeugt bin ich nicht.

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