Wolfgang Bauer schreibt Reportagen. Wolfgang Bauer lebt Reportagen. Er begleitete Flüchtlinge auf ihrer Reise über das Mittelmeer nach Europa. Vergangene Woche las der Reporter der Wochenzeitung Die Zeit im Rahmen des Lendwirbels aus dem Buch, das er über diese Reise geschrieben hat. Die Annenpost sprach mit ihm über die Flucht, Lebensgefahr und Verrat.
Wolfgang Bauer war ein Flüchtling. Er ließ sich gemeinsam mit dem Fotografen Stanislav Krupar von Schleppern nach Europa bringen. Zusammen mit hunderten Menschen, die vor dem syrischen Bürgerkrieg flüchteten, wollten sie von der ägyptischen Hauptstadt Kairo über Alexandria und das Mittelmeer nach Italien. Die beiden waren getarnt als Englischlehrer aus dem Kaukasus, flüchtend vor einer Familienfehde.
Bauer und Krupar wurden wie alle Flüchtlinge geschlagen, tagelang auf engstem Raum in Wohnungen eingesperrt, von den Behörden gejagt und litten Todesangst. Sie wurden von der ägyptischen Mafia entführt, packten ihr Leben in einen kleinen Rucksack und wurden verhaftet.
Der deutsche Reporter und sein tschechischer Fotograf haben Freundschaften geschlossen und Freunde an das Meer verloren.
Zurück in der europäischen Heimat will Bauer auf die Zustände und Gefahren aufmerksam machen, denen sich die Flüchtlinge aussetzen müssen. Er fordert PolitikerInnen dazu auf, die Asylpolitik zu verändern und mehr Geld für Rettungsaktionen am Meer. Es dürfe nicht nur bei Grenzkontrollen bleiben.
Aber inwieweit ist Bauer hier noch Journalist, der so neutral wie möglich Einblick gewähren sollte und den Leser sich seine eigene Meinung bilden lässt? Oder hat er diesen Weg verlassen, ist jetzt Abenteurer und Aktivist? Müssen diese extremen Umstände eingenommen werden, um dem Leser diese Reportage zu liefern?
Die Annenpost im Gespräch mit Wolfgang Bauer, über das Schreiben von Reportagen.
Annenpost: Herr Bauer, warum die Spezialisierung auf Reportagen?
Wolfgang Bauer: Anfangs hatte ich keinen Lebensplan oder den Drang die Welt zu verändern. Ich war einfach neugierig und wollte schreiben. Die Reportage war für mich deswegen so reizvoll, weil man durch sie als Journalist das Leben kennenlernen kann. Sie bietet unendlich viele Möglichkeiten und in keinem anderen Beruf hast du die Chance, kurzfristig in die Haut anderer Menschen zu schlüpfen, zu spüren was deren Sehnsüchte sind und was die Attraktionen in deren Leben darstellen.
Wie wählen Sie ihre Themen aus?
Es sind einfach die Geschichten, die mich interessieren. Es kommt mir nicht darauf an, welches Land das ist oder ob es um Männlein oder Weiblein geht. Es geht mir um die Geschichte, welche mich dann erneut in eine Welt hinein führt, die mir bisher nicht so viel gesagt hat. In diese Welt kann ich mich dann hineinarbeiten. Oft geht es mir um Leidenschaft oder Grenzsituationen, in denen das Menschsein am „nacktesten“ ist.
Sein eigenes Leben für eine gute Geschichte riskieren – ist so ein Einsatz zwingend notwendig?
Nein! Ich habe tolle Reportagen mit 30 000 Zeichen über das Warten oder ein fehlgeschlagenes Interview gelesen und war mit keinem Satz gelangweilt. Es kommt nicht darauf an, dass man sich dem Bombenterror Syriens oder dem Flüchtlingsdrama aussetzt, um eine sehr gute Reportage zu schreiben, allerdings verlangen gewisse Themen einen gewissen Einsatz und können natürlich nicht vom Schreibtisch aus angegangen werden. Meiner Meinung kommt es darauf an, dass du ehrlich bist und sich etwas von dir selbst in der Reportage widerspiegelt. Das unterscheidet die Reportage vom Nachrichtenjournalismus.
Was sagt Ihre Familie dazu, wenn sie sich für Ihre Arbeit in Lebensgefahr begeben?
Meine Freundin ist selbst Journalistin und unterstützt mich, die Fluchtgeschichte hat sie mir allerdings verboten. Aber sie hat mich trotzdem gehen lassen. Alle verstehen, dass sie mich nur so bekommen und keiner versucht mich da sonderlich zu „domestizieren“.
Durch Ihre Reportagen bauen Sie, wie Sie selbst sagen, einen besonderen Bezug zu den Themen auf, über die sie schreiben. Können Sie noch unabhängig sein beziehungsweise wollen Sie das überhaupt?
Im Endeffekt müssen das meine Leser beurteilen. Ich bilde mir ein, es meistens zu schaffen, die Leute mit genügend Distanz zu beschreiben. Aber natürlich ist es notwendig, unabhängig zu sein. Wenn du merkst, dass dich die zu große Nähe auffrisst und du die Leute nicht mehr klar sehen kannst, musst du einen oder mehrere Schritte zurück gehen. Das ist auch der Grund, warum ich nicht nur in den Nahen Osten fahre oder nur über Kriege berichte. Damit sich mein Sichtvermögen immer wieder neu zusammensetzt und ich die Wirklichkeit in vielen verschiedenen Facetten wahrnehme. Das ist die große Kunst. Manchmal musst du auch einen Preis dafür bezahlen.
Inwiefern?
Indem du Verrat begehst. Du begleitest Leute intensiv für eine lange Zeit, lernst sie kennen und wirst ihr Freund, bist aber doch nicht ihr Freund oder nur zum Teil. So richtig ihr Freund kannst du erst sein, wenn der Artikel gedruckt ist und das Berufliche miteinander abgeklärt wurde. Manchmal musst du Leute, die dir eine große Nähe erlaubt haben, ein bisschen verraten, um nicht den ganz großen Verrat zu begehen – nämlich den Verrat an deinem Leser. Besonders junge Kollegen haben da oft ihre Probleme damit, und das ist auch gut so. Auch ich habe das erst lernen müssen.
Haben Sie eine spezielle Grundregel für das Schreiben von Reportagen?
Es gibt genau eine Regel: – Es gibt keine Regeln.
[box]Wolfgang Bauer: Über das Meer – mit Syrern auf der Flucht nach Europa. Suhrkamp 2014.
In der Zeit erschienen:
Und vor uns liegt das Glück. Zeit Magazin 23/2014
Am rettenden Ufer. Zeit Magazin 50/2014
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