„Täglich wartet sie am Fenster auf mich”

Lesezeit: 4 Minuten

Mobile Pflege- und Betreuungsdienste ermöglichen pflegebedürftigen Menschen ein Leben in den eigenen vier Wänden. Elfriede Keplinger gewährt Einblicke in ihren Beruf.

Wegweiser zum Stützpunkt Lend. Foto: Katrin Blaß

„Mobile Pflege und Betreuung” steht auf dem Schild, das zum Eingang im Hinterhof führt. Der Wegweiser thematisiert, was die meisten von uns früher oder später betrifft: Pflege im Alter. Da viele Menschen ihren letzten Lebensabschnitt in den eigenen vier Wänden verbringen möchten, wird ein Großteil der Pflegebedürftigen von Angehörigen betreut. Dabei bedarf es neben sorgfältiger Planung meistens auch professioneller Unterstützung durch mobile Pflege- und Betreuungsdienste. In Österreich sind aktuell 456.103 Menschen pflegebedürftig. 24.100 davon werden von den mobilen Pflegekräften des Österreichischen Roten Kreuzes betreut.

Elfriede Keplinger ist Pflegehelferin und absolvierte die Zusatzausbildung zur „Fachsozialbetreuerin Altenarbeit”. Seit 2004 arbeitet sie in der mobilen Pflege und Betreuung.

So sieht ein Vormittag in ihrem Beruf aus: 

06:45 Uhr. Jeder Dienst beginnt und endet in der Neubaugasse 112, im Einsatzzentrum Lend. Hier treffen sich die MitarbeiterInnen vor Dienstbeginn. Am Tisch befinden sich, neben frisch gebrühtem Kaffee, drei Smartphones. Ein digitales Dienstsystem bietet Vorteile für die Pflegedokumentation. Pushmitteilungen weisen auf den persönlichen Zeitplan hin.

Elfriede Keplinger und zwei ihrer Arbeitskolleginnen. Foto: Katrin Blaß

07:16 Uhr. Dieser Zeitplan führt heute in eine Seitengasse der Annenstraße. Am Zielort angekommen, wirft Elfriede noch einmal einen Blick in die Klientenmappe, in der sich Dokumente wie Stammdatenblatt, eine schriftliche Betreuungsvereinbarung und ein Tätigkeitsprotokoll befinden. Mittels Farbcodes wird im Protokoll jeder Handgriff des interdisziplinären Pflegeteams vermerkt.

07:25 Uhr. Im 8. Stock öffnet die Pflegehelferin, nach zweimaligem Klingeln, die unversperrte Tür. Im Wohnzimmer dahinter sitzt Gerhard Winkler* in einem stockdunklen Raum. Der alleinstehende Mann leidet an einer psychischen Erkrankung. „Er hat früher beruflich im Tiefbau gearbeitet und vergisst deshalb manchmal Licht in die Wohnung zu lassen”, erzählt sie, während die Jalousien hochgezogen werden. Ob heute Dienstag sei, will der Rentner von ihr wissen, als langsam wieder Sonnenlicht in die Wohnung fällt. „Ja, heute ist Dienstag. Wissen sie noch, was wir für Dienstag geplant hatten?”, antwortet sie dem Mann und reicht ihm den Rasierapparat. Der Rentner macht sich auf den Weg ins Bad und beginnt seinen Bart zu stutzen. Die Pflegehelferin notiert alle davor gemessen Vitalzeichen und erledigt die angefallenen Haushaltstätigkeiten. Nach über zwei Jahren Betreuung sind die beiden ein eingespieltes Team. Er weiß, dass sie ihm den Kaffee täglich so zubereitet, wie er ihn am liebsten mag. Und sie weiß, dass er ihr Geschichten von seinem Australien-Aufenthalt erzählen wird, während sie zu Trainingszwecken gemeinsam die Stufen vom 8. Stock hinuntergehen.

Erbrachte Tätigkeiten werden direkt am Smartphone vermerkt. Foto: Katrin Blaß

08:36 Uhr. Die zweite Klientin, eine an Depressionen leidende Rentnerin, teilt sich die Wohnung mit ihrem erwachsenen Sohn. Die mobile Pflege erfüllt in ihrem Fall bloß eine Kontrollfunktion. „Wir schauen, ob die Tabletten regelmäßig eingenommen werden”, erzählt Elfriede, als sie den Medikamentendosierer öffnet. Die kleinen Behälter werden einmal wöchentlich vom interdisziplinären Team befüllt und danach an die PatientInnen ausgegeben. Rosa Krainer* freut sich sichtlich über die Gesellschaft, doch 15 Minuten sind schnell um und die vorher festgelegte Betreuungszeit muss eingehalten werden. In Graz erfolgt die Abrechnung dazu in Fünfminuten-Schritten. „Oft sind die Klienten in finanzieller Not. Manchmal wird der mobile Dienst trotz sozial gestaffelter Tarifsätze wieder komplett abbestellt, weil sie es sich nicht länger leisten können. Dann übernehmen meist Kinder oder Enkelkinder die Pflege“, sagt die Pflegehelferin.

Die Medikamentendosierer werden täglich überprüft. Foto: Katrin Blaß

08:54 Uhr. „Bei der nächsten Dame haben uns die Angehörigen extra darauf hingewiesen, ausreichend Zeit für Gespräche einzuplanen. Die Pflegetätigkeit spielt hier eine Nebenrolle.“, sagt Elfriede, bevor sie in ihr Auto steigt. Weil Angehörige oft in anderen Städten wohnen, fehlen vor allem älteren Menschen meist Bezugspersonen. Viele fühlen sich einsam und alleingelassen. Gertrude Weiß* sprach mit niemandem mehr, nachdem sie vor rund einem Jahr einen Oberschenkelhalsbruch erlitt. Appetitlosigkeit und Schlafstörungen plagten die Rentnerin. In ihrer Mobilität war sie durch die Verletzung ebenfalls eingeschränkt. „Jetzt wartet sie täglich am Fenster auf mich”, sagt Elfriede. Gespräche, aber auch Gleichgewichts- und Gedächtnisübungen würden vor allem bei dementen Klienten häufig einen positiven Effekt erzielen. „Schauen’s einmal her! Von hier sieht man direkt auf die Keplerstraße. Da ist immer was los”, erzählt die 90-Jährige, während sie sich am Fensterbrett abstützt und stolz ihre Übungen demonstriert. Darauf folgen eine komplette Wohnungsführung, die Erläuterung des gesamten Stammbaums und nette Geschichten aus dem Alltag. Nach 45 Minuten reicht es Gertrude. „Jetzt habe ich aber wirklich keine Zeit mehr, mich um euch zu kümmern! Ich muss noch einkaufen und die Jause für meinen Sohn machen”, sagt sie und schließt lächelnd die Wohnungstür. 

Die Betreuungsmappe bleibt bei den KlientInnen zuhause. Foto: Katrin Blaß

09:55 Uhr. Zurück im Auto. Der Morgenverkehr nimmt langsam ab, die Temperatur im Wagen zu. Durch die kurzen Wegzeiten kann die Klimaanlage nie richtig kühlen. Im Hochsommer werde es „unerträglich heiß“ im Auto. Die Arbeit in der mobilen Pflege sei das ganze Jahr über ein sehr fordernder Beruf. „Wir wollen den anderen Menschen möglichst gut helfen, vergessen dabei aber oft auf uns selbst”, sagt Elfriede. Eine gute Ausbildung, verpflichtende Schulungen sowie freiwillige Fortbildungen würden helfen einem Burn-out entgegenzuwirken. Zusätzlich sei es wichtig, schon in der Ausbildung einen Einblick in die verschiedensten Bereiche des Pflegedienstes zu bekommen. Dass das verpflichtende Praktikum in der Hauskrankenpflege nicht mehr in den Reformplänen zur Ausbildung angehender Pflegekräfte vorgesehen ist, stört Elfriede. „Das finde ich sehr schade, denn in der mobilen Pflege hat man einen anderen Zugang zu Menschen. Außerdem kann man Berufserfahrung nicht lernen.”

Elfriede Keplinger auf dem Weg zur nächsten Klientin. Foto: Katrin Blaß

Auch wenn der Pflegebereich aufgrund des demographischen Wandels eine immer größere Rolle spielt, wünscht sich Elfriede für die Zukunft, dass man Personen nicht mehr „einfach als Lückenfüller in den Pflegebereich schiebt” – nach dem Motto: „In der Pflege braucht man immer Leute”. Gute Pflegekräfte seien eine unschätzbare Hilfe für die Betroffenen und deren Angehörigen. Um dieser Helferrolle gerecht werden zu können, müsse man jedoch aus eigenem Willen den Beruf ergreifen. Elfriede mag ihn gerne, trotz aller Hürden. „Es ist ein gutes Gefühl, wenn man weiß, dass man Menschen weiterhilft und sie einen täglich freudig erwarten“, sagt Elfriede während auf ihrem Smartphone schon der nächste Termin aufleuchtet. 

Geht gerne Klettern, Skifahren und auf Parties.
Mag gutes Essen und roten Wein. Doch am Liebsten mag sie Chris und Dogstar Lea. Lebt nach dem Motto: Collect memories not things!
Findet Graz gut.

Schreibe einen Kommentar

Your email address will not be published.

5 × eins =

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.

Vorherige Geschichte

Roter Keil erobert Raum

Nächste Geschichte

„Bäume haben uns so viel zu erzählen“

Letzter Post in SOZIALES