Valentin ist einer von rund 2000 Grazer „Dumpsterern“, die regelmäßig in Mülltonnen von Haushalten, Betrieben oder Supermärkten nach noch genießbaren Lebensmitteln suchen. Bei einer nächtlichen Dumpster-Tour quer durch das Annenviertel wird sichtbar, wie groß das Problem der Lebensmittelverschwendung wirklich ist.
Zehn Uhr abends, Lendplatz, Würstelstand. „Ich hab’ noch den Tom aufgegabelt, er dumpstert auch gern“, begrüßt mich Valentin und gibt mir einen Faustcheck. Die wenigen Menschen, die sich hier mit Frankfurter und Bier begnügen, scheinen es nicht eilig zu haben – wir hingegen schon. „Es könnte schmutzig werden“, meint Valentin und reicht mir Arbeitshandschuhe, die mir später noch sehr nützlich sein würden. Und schon geht es los.
Kein Anfängerglück
Wir versuchen unser Glück direkt am Lendplatz, gleich bei drei Supermärkten. Während wir die Mülltonnen suchen, erklärt mir Valentin den rechtlichen Aspekt des Dumpsterns: „Eigentlich ist das Dumpstern eine rechtliche Grauzone, zumindest, wenn man es in nicht abgesperrten Mülltonnen macht. Wenn man in abgesperrte Müllbereiche einbricht, ist das aber wirklich illegal.“ Viele Supermärkte würden ihre Mülltonnen aufgrund schlechter Erfahrungen mit Dumpsterern absperren, einige hätten sogar Müllkäfige, um Mülltaucher abzuhalten. „Theoretisch gibt’s aber fast immer einen Weg“, meint er und schmunzelt.
Mülltonnen finden wir bei unseren ersten drei Versuchen jedoch erst gar nicht. Nur bei einem Supermarkt können wir den Müllraum überhaupt lokalisieren, dieser ist aber verschlossen. Aber Valentin bleibt optimistisch: „Manchmal muss man ein bisschen suchen, aber eigentlich findet man immer etwas.“ Wir beschließen, uns über die Grenzen des Annenviertels hinaus zu wagen – Valentin und Tom kennen einen großen Supermarkt in Gösting, bei dem man des Öfteren fündig werde.
Ich setze mich auf die Ladefläche des Lastenrades und schon geht die Reise los. Bei eiskaltem Fahrtwind lausche ich den Erzählungen meiner Begleiter. Valentin und Tom sind auch beim Verein foodsharing ehrenamtlich tätig. Im Annenviertel habe der Verein noch nicht so viele Mitglieder, sagt Valentin. „Es ist halt eher ein ärmeres Viertel, da haben die Leute wenig Ressourcen, um sich ehrenamtlich zu betätigen“, meint er. Dumpsterer gäbe es hier auch wenige. In „reicheren“ Vierteln sähe das anders aus, dort gäbe es auch Dumpsterer, die in Hausmüll stöbern: „Ich kenne viele ältere Menschen, die dort in Hausmüll dumpstern, weil es da viel zu finden gibt.“ Laut dem Bundesministerium für Nachhaltigkeit und Tourismus werden in österreichischen Privathaushalten pro Kopf jährlich durchschnittlich 19 Kilo an noch genießbaren Lebensmittel weggeworfen – und das allein in den Restmüll.
Tonnen voller Farben
Als wir in endlich in Gösting ankommen, stellen wir fest, dass die Müllcontainer nicht abgesperrt sind, also machen wir uns an die Arbeit. Schnell merken wir, dass die Restmülltonnen leer sind, bei den Biomülltonnen landen wir jedoch einen Jackpot. Auch wenn mir das auf den ersten Blick gar nicht auffällt. Valentin erklärt mir, dass das kein Zufall sei: „Oft geben die Betriebe ‚ganz zufällig’ Abfall drauf, der nicht so ansprechend ist, um Dumpsterer abzuschrecken. Man muss dann oft ein bisschen suchen, unterhalb sind dann aber meistens gute Lebensmittel.“ Genauso war es dann auch: Nachdem wir die oberen Schichten einer Tonne entsorgen, schlägt uns eine bunte Gemüse- und Obstmischung aus der dunkelbraunen Tonne entgegen. “Das Schöne am Winter ist, dass der Biomüll nicht so stinkt”, sagt Valentin.
Wir nehmen alles mit, was noch in Ordnung ist – und verlassen den Supermarkt mit drei Riesentaschen voller genießbarer Lebensmittel, die ohne uns vergammelt wären.
Auf dem Weg zurück ins Annenviertel, stoßen wir auf einen weiteren Supermarkt. Wir beschließen spontan, unser Glück zu versuchen – und werden sogleich belohnt. In den Restmülltonnen finden wir neben Croissants, Semmeln und Sandwiches auch Kartoffeln, Minze und Blumen.
Die Angst vor rechtlichen Problemen sei der Hauptfaktor, wieso die meisten Betriebe und Supermarktketten nicht mitmachen wollen. Valentin erzählt: „Wir haben schon bei vielen Ketten angefragt, aber da geht nichts weiter. Manche behaupten sogar, dass bei ihnen gar keine Lebensmittelabfälle anfallen, weil sie an die Tafel spenden.“ Die Tafel Österreich, also die Lebensmittelausgabe des Roten Kreuzes, findet zwar nur samstags statt, einige Supermärkte spenden jedoch auch an die Vinzimärkte, bei denen Bedürftige auch unter der Woche einkaufen können. Dass trotzdem noch genießbare Lebensmittel entsorgt werden, wird bei jeder noch so kleinen Dumpster-Tour klar – und davon wurden wir auch selbst Zeugen.
„Es muss ein Bewusstsein geschaffen werden“
Das Lastenrad ächzt unter dem Gewicht der Lebensmittel, wir beschließen, noch bei einigen „Fair-Teilern“ halt zu machen. Während wir das Regal am Mariahilferplatz befüllen, nähert sich uns ein Rosenverkäufer, er scheint bereits zu wissen, was vor sich geht. „Wie schaut’s aus heute?“, fragt er uns. Er wirft einen neugierigen Blick ins Regal und nimmt sich gleich ein paar Orangen. Wir bieten ihm auch andere Lebensmittel an, er lehnt jedoch dankend ab. Zum Abschied lächelt er und wünscht uns einen schönen Abend – eine Rose ist für mich auch noch drinnen.
Am Ende der Tour freuen wir uns über unsere gedumpsterten Lebensmittel, der Nachgeschmack bleibt dennoch bittersüß. „Es ist schon ein bisschen traurig, ja“, stimmt Valentin mir zu. Darum sei es für ihn auch so wichtig, dass man darüber berichtet. „Man muss den Leuten zeigen, wie viel wirklich weggeschmissen wird“, meint Valentin, „das Bewusstsein fehlt, und genau das muss sich ändern, damit wir auch etwas bewirken können.“ Der Verein foodsharing lobbyiert auch dafür, dass Müllbereiche nicht mehr abgesperrt werden müssen, um legales Dumpstern zu ermöglichen. Aber: „Solang das Bewusstsein dafür nicht ausgeprägt ist, wird auch in diesen Sachen nichts weitergehen.”