Jede:r Sechste in Österreich hat bei der Bundespräsidentschaftswahl keine Stimme. Im Annenviertel sind besonders viele ausgeschlossen.
Von: Laura Ablasser, Nina Ebner-Ornig, Fabian Enzi, Matthias Adler
Dienstag, 4. Oktober 2022, Mariahilferplatz. Ein weißes Zelt in der Mitte des Platzes, vor dem Eingang stehen die Leute Schlange. Manche sind hier nur aus Neugierde. Andere, um ein kleines Kreuz auf ein Blatt Papier zu setzen. Fünf Tage früher als der Rest Österreichs. Wer hier wählt, darf es zumeist am Sonntag nicht: Die Pass-Egal-Wahl, zu der SOS Mitmensch mit lokalen Partnern in ganz Österreich aufgerufen hat, ist eine Möglichkeit für Nicht-Staatsbürger:innen, zumindest eine symbolische Stimme für einen Bundespräsidenten abzugeben. In der Steiermark gab es ein einziges Wahllokal in Graz, in Kärnten waren es sogar drei – und fast 50 in ganz Österreich.
Ziel der Initiative: Das demokratiepolitische Problem aufzuzeigen, dass jede:r Sechste in Österreich nicht wählen darf. Das sind immerhin 1,4 Millionen Menschen. Im Annenviertel gibt es aufgrund des hohen Migrant:innenanteils besonders viele Betroffene: Im Bezirk Gries ist laut Zahlen der Statistik Graz nur knapp die Hälfte der Bevölkerung wahlberechtigt, im Lend ist die Situation minimal besser.
In Graz hat ZEBRA die Pass-Egal-Wahl veranstaltet, eine Einrichtung, die Beratung für Zugewanderte und Geflüchtete anbietet. „Es ist sehr wichtig, dass es aussieht wie eine echte Wahlsituation, damit jene, die noch nie in Österreich ihre Stimme abgeben konnten, das Gefühl bekommen, dass sich jemand für ihre Meinung interessiert”, sagt Geschäftsführerin Alexandra Köck. Auf den ersten Blick gibt es kaum Unterschiede zur Wahl am Wochenende. Auch am Mariahilferplatz machen die Wähler:innen ihr Kreuz, stecken den Wahlzettel in einen Umschlag, werfen ihn in die Urne. Mehrere Beisitzende beobachten den Prozess. Lediglich die Pässe, die hier vorgezeigt werden, sind bunter.
Wahlrecht für Nicht-Staatsbürger:innen
Der Autor Omar Khir Alanam, der Ende 2014 als Flüchtling aus Syrien nach Österreich kam, darf am Sonntag in seiner neuen Heimat Graz zum ersten Mal an einer Wahl teilnehmen. Er ist endlich anerkannter Staatsbürger, ein ganzes Jahr lang hat er dafür gekämpft. Bei der Pass-Egal-Wahl am Mariahilferplatz war er trotzdem, um dort eine Solidaritätsstimme abzugeben. Wenn es nach ihm ginge, sollten auch Nicht-Staatsbürger:innen mit Lebensmittelpunkt in Österreich das Wahlrecht erhalten. Viele Migrant:innen seien mit demokratischen Prozessen nicht vertraut, da sie aus Ländern stammen, wo politische Diskussionen nur im Flüsterton stattfinden dürfen. “Hier musst du nicht flüstern”, sagt Omar. An die Migrant:innen im Annenviertel appelliert er, sich zu engagieren: „Eigentlich geht es um dich, aber du sitzt da auf deiner Couch und jammerst!”
Kritik am Einbürgerungsverfahren
Godswill Eyawo, Geschäftsführer des Grazer Migrant:innenbeirats, sieht das Bedürfnis der Nicht-Staatsbürger:innen, sich durch Wählen ein Stück weiter in die österreichische Gesellschaft zu integrieren: “Es gibt sehr wohl Leute, die dazugehören wollen.” Für das fehlende Wahlrecht soll der Migrant:innenbeirat als politische Vertretung der Nicht-Staatsbürger:innen kompensieren. Eyawo erklärt, warum dies jedoch nur bedingt funktioniert: “Wir haben eine rein beratende Funktion.” Besonders problematisch findet er, dass viele in Österreich geborene Kinder nicht an die Staatsbürgerschaft kommen. Denn auch für sie gilt die Mindestaufenthaltszeit von zehn Jahren, und ihre Eltern besitzen oftmals nicht die nötigen finanziellen Mittel, die bei einem Antrag auf Staatsbürgerschaft nachgewiesen werden müssen.
Auch der deutsche Journalist Norbert Mappes-Niediek, seit Jahrzehnten in Österreich wohnhaft, kritisiert: „Man könnte sich in Österreich ja auch geschmeichelt fühlen, wenn jemand Interesse daran hat, die Staatsbürgerschaft anzunehmen.“ Das komplizierte Einbürgerungsverfahren beurteilt er als abschreckend: „Für diese Staatsbürgerschaft muss man eine Identität aufgeben, bekommt aber keine neue.“ Einerseits weil es in Österreich in der Regel keine Doppelstaatsbürgerschaften gibt. Andererseits weil man zum Beispiel mit türkischem Namen niemals vollständig als Österreicher:in anerkannt werde: Marianne Hamanni-Birnstingl, Geschäftsführerin des Vereins DANAIDA zur Bildung migrantischer Frauen, begründet diese Tatsache mit der „österreichischen Grundausländerfeindlichkeit“.
Eindeutige Ergebnisse
Immerhin 159 Solidaritätsstimmen wurden in Graz am Mariahilferplatz von Österreicher:innen abgegeben. Die restlichen 111 Stimmen stammten von Migrant:innen aus 38 Nationen. Klarer Wahlsieger: Amtsinhaber Alexander Van der Bellen mit knapp 76 Prozent – österreichweit waren es 73%. Insgesamt wurde dieses Jahr eine Rekordbeteiligung erreicht: Mehr als 8500 Menschen aus 86 Ländern besuchten die Wahllokale, in denen der Pass egal ist.
Titelbild: Endah Ebner, Vorsitzende-Stellv. des Migrant:innenbeirats, gibt ihre Stimme bei der Pass-Egal-Wahl ab – Foto: Mohammad Hajiloo